Archive for the ‘Literatur’ Category

4631: Polen im Umbruch

Sonntag, Dezember 24th, 2023

Es geht zur Zeit vieles sehr schnell in Polen. Das Land will zurück zur Demokratie, zur Medienfreiheit, zum EU-Recht. Neue Staatsanwälte werden eingesetzt, neue Geheimdienstchefs ernannt. Der Innenminister muss in den Knast, er ist schon vor zehn Jahren verurteilt worden. Es gibt sogar schon einen Haushalt. Es wird klar, was nach acht Jahren PIS alles im Argen lag. Alles.

Die Reaktionäre hatten alles politisiert. Nun soll etwa bei den Massenmedien Objektivität zurückkehren. Das haben sich auch die privaten Medien zu ihrem Ziel gesetzt. Vor allem gibt es neue Fernseh-Nachrichten. Da sehen wir, wie wichtig sie sind. Wir vergessen dabei nicht, dass 7,4 Millionen Polen PIS gewählt haben. Das sind Nationalisten, Reaktionäre und Katholiken. Sie wollten u.a. die Abtreibung verbieten. Das neue Motto: „Wir wollen nicht trennen, sondern verbinden.“ (Viktoria Großmann, SZ 23./24./25./26.12.23)

4630: Hanna Schygulla 80

Samstag, Dezember 23rd, 2023

Die 1943 geborene Hanna Schygulla war mit ihren Eltern aus Schlesien geflohen. Bei Rainer Werner Fassbinder wurde sie ein Star, später ein Weltstar. In der Münchener Filmszene um 1970 gab es viele miteinander verfeindete Potenzen. Der kleine Schwule und große Regisseur Fassbinder erkannte Schygullas Kapazität und förderte sie. Nebenbei galt sie als schönste Frau von ganz München. „Liebe ist kälter als der Tod“, „Katzelmacher“, „Warnung vor einer heiligen Nutte“, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, „Acht Stunden sind kein Tag“ und schließlich „Effi Briest“ machten Hanna Schygulla zum Star.

Sie blieb sich treu, autonom, wohnte nicht mit den anderen, machte sich nicht abhängig. Sie spielte bei anderen Regisseuren. Etwa Wim Wenders. „Falsche Bewegung“. Ja, das waren noch Filme. In der „Ehe der Maria Braun“ (1978) wurde Deutschland auf den Begriff gebracht.  Die Männer kamen geschwächt aus dem Krieg, und die Frauen übernahmen das Kommando. Aber nicht allzu lange. Es folgte dann noch „Lili Marleen“. In allen Filmen verkörperte Schygullas Langsamkeit ihre Unantastbarkeit. Einmalig (Willi Winkler, SZ 23./24./25./26.).

4627: Hans-Peter Blossfeld: „Gleiche Bildungschancen für alle sind eine Illusion.“

Donnerstag, Dezember 21st, 2023

Der Bildungsforscher Prof. Dr. Hans-Peter Blossfeld (Bamberg) forscht seit Jahrzehnten zu Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit: Auf die Frage von Martin Spiewak (Zeit 23.11.23) „Schaffen es andere Länder?“ antwortet er:

„So wirklich schafft es kein Land auf der Welt. In England gibt es den großen Sektor der Privatschulen, auf den bildungsbewusste Familien ausweichen können. In Frankreich wählen Schüler aus besseren Familien prestigereichere Fächer wie Deutsch oder Latein, die ihre Chance auf ein Studium erhöhen. Und in den USA hängt die Schulqualität extrem vom Wohnviertel ab. Wer eine gute Schule will, muss sich eine gute Wohngegend suchen. Kurzum: Gleiche Bildungschancen für alle sind überall eine Illusion.“

4621: Masha Gessen: „Es gibt bislang keinen zweiten Holocaust.“

Sonntag, Dezember 17th, 2023

In einem Interview mit Sonja Zekri (SZ 16./17.12.23) sagt die mit dem Hanah-Arendt-Preis ausgezeichnete US-Schriftstellerin (russisch-jüdischer Herkunft) Masha Gessen, um deren Preis es einen Skandal gab:

„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht nur erlaubt ist, sondern sogar unsere moralische Verpflichtung, den Holocaust mit anderen Ereignissen zu vergleichen. Wir sind im 21. Jahrhundert nicht schlauer, besser und moralischer als die Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Holocaust hinter uns liegt, und sie hatten ihn vor sich. Sie haben Derartiges nicht für möglich gehalten. Wir wissen, dass es möglich ist. Und ich sehe nur eine Möglichkeit, um eine Wiederholung zu verhindern: immer wieder danach zu fragen, was genau geschieht. Das bedeutet gerade nicht, etwas mit dem schlimmsten Verbrechen gleichzusetzen, dessen Menschen fähig sind. Es gibt bislang keinen zweiten Holocaust.“

Auf die Frage „Hätte Hanah Arendt eine Chance, heute den Hanah-Arendt-Preis zu bekommen?“ antwortet Gessen: „Die leichteste aller Fragen: Nein.“

4610: Deutsche Schüler so schlecht wie nie

Donnerstag, Dezember 7th, 2023

Nach den neuesten Pisa-Daten sind deutsche Schüler so schlecht wie nie vorher (15-Jährige in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften). Auch international ist die durchschnittliche Leistung drastisch gesunken. Das teilte die OECD mit. Die deutschen Schüler stürzten besonders in der Mathematik ab (SZ 6.12.23).

4609: Aiwanger-Beschwerde zurückgewiesen

Mittwoch, Dezember 6th, 2023

Die Beschwerde des bayerischen Wirtschaftsministers Hubert Aiwanger (Freie Wähler) beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ in der Flugblatt-Affäre ist neben 17 anderen Beschwerden zurückgewiesen worden. Die Berichterstattung sei inhaltlich und presseethisch nicht zu beanstanden. An der Aiwanger-Verdachtsberichterstattung habe ein erhebliches öffentliches Interesse bestanden. „Die Vorwürfe standen in eklatantem Widerspruch zu Aiwangers Ämtern als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns.“ Die Vorwürfe seien so gravierend gewesen, dass darüber berichtet werden durfte, ohne dass Aiwangers Persönlichkeitsschutz verletzt worden wäre.

Die journalistische Sorgfaltspflicht sei nicht verletzt worden. Auch habe Aiwanger genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt. Eine Vorverurteilung habe es nicht gegeben. Von „Kampagnenjournalismus“ könne keine Rede sein. Die einschlägigen Beiträge waren in der SZ zwischen dem 25. und 28. August 2023 erschienen (SZ 6.12.23).

4604: Die Generalsekretärin von PEN-International ist zurückgetreten.

Samstag, Dezember 2nd, 2023

Die Generalsekretärin von PEN International ist wegen Verlautbarungen ihrer Zentrale und der Gleichgültigkeit von Menschenrechtsorganisationen, Frauenorganisationen und der Welt der Kunst und Literatur gegenüber den israelischen Opfern des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 zurückgetreten. Es ist die Hamburger Schriftstellerin Regula Venske. Sie stimmt überein mit dem israelischen PEN. Damit erklärte sich auch PEN Berlin solidarisch. Die Welt der Kunst zerfällt in zwei Lager (Felix Stephan, SZ 21.11.23).

4603: Deborah Feldman ist unorthodox und passt in kein Schema.

Samstag, Dezember 2nd, 2023

Seit ihrem Buch „Unorthodox“ über ihre Flucht aus der orthodoxen Satmarer-Sekte in New York ist Deborah Feldman ein literarischer Star. Seit zehn Jahren lebt sie in Berlin. Nun ist ihr neues Werk „Judenfetisch“ erschienen. Sie ist gefragter denn je. Ich führe hier Äußerungen von ihr auf, die sie in einem Interview mit Sonja Zekri (SZ, 21.11.23) gemacht hat:

„Meine Großeltern waren Deutsche, wurden verhaftet, mussten fliehen.“

„.. ich bin genau so berechtigt, mich als deutsche Jüdin zu Wort zu melden. Ich habe die Staatsbürgerschaft meines Urgroßvaters bekommen, ich habe hier meine Wurzeln, ich fühle mich zugehörig. Und das lasse ich mir auch nicht absprechen.“

„Die gesamte Debatte über den muslimischen Antisemitismus dient den Rechten dazu, sich vom Antisemitismus zu entlasten.“

„Solidarität mit Israel ist eine gute Lehre aus dem Holocaust, ich will das nicht anzweifeln. Seit Konrad Adenauer führt Deutschlands Weg zur Wiedergutmachung an die Seite Israels. Deutschland investiert in den Erfolg Israels und befreit sich dadurch aus seiner Verantwortung aus der Geschichte.“

„Dieses Land hat sich sehr früh darauf festgelegt, dass in der bedingungslosen Solidarität zu Israel die Erlösung liegt, vom Antisemitismus, vom Rassismus, von gesamten Hass in der Gesellschaft.“

„Es gibt schon lange eine Bewunderung der europäischen Rechten für das rechtsnationale Israel.“

„Es besteht eine Gefahr für Muslime und dann für Juden. Und das macht mir existentielle Angst als Enkelin eines Großvaters, der 1939 von der Gestapo verhaftet und zur polnischen Grenze gebracht wurde, zu Fuß zurücklief, um Frau und Kinder zu holen und gleich zu fliehen.“

„Der 7. Oktober hat mich näher an die Friedensaktivisten gebracht, an die weltoffenen Israelis und Palästinenser. Er hat mich nicht dem gesamten Judentum näher gebracht. Ich fühle mich doch nicht den rechtsextremen Siedlern in der Westbank nahe, die jetzt Jagd auf Palästinenser machen. Ich fühle mit allen Opfern und ihren Angehörigen. Das Wir, das angegriffen wurde, ist der Frieden, die Menschenrechte, der Humanismus. Für die ich mein Leben lang gekämpft habe.“

„Es gibt viele Stimmen in Israel, die diese Gewalt klar für exzessiv und unverhältnismäßig halten. Der Entzug von Wasser ist völkerrechtswidrig. Die Vertreibung ist völkerrechtswidrig. Die Inkaufnahme ziviler Opfer ist völkerrechtswidrig.“

„Mein eigener Lösungsansatz lautet wie der von vielen Menschen in Israel und in der Diaspora: Lasst uns diese Stimmen lauter machen, die nicht von ‚tilgen‘ reden. Sie sind die einzigen, die eine Lösung herbeiführen können.“

„Primo Levi, Jean Améry und Czeslaw Milosz wollten nur eines vermitteln: Entweder du bist für alle, und alle Menschen sind gleichwertig, denn nur so entgehen wir der Gefahr, dass wir ein neues Opfer aussuchen. Oder du sagst, mir ist etwas Schlimmes passiert, also darf ich wegschauen, wenn anderen etwas Schlimmes passiert. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.“

4597: Große Kunst bleibt wichtig.

Sonntag, November 26th, 2023

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass in der Kunst die Maßstäbe verschwinden. Die Findungskommission der Documenta und ein Kurator der Fotografie-Biennale sind zurückgetreten. „Offensichtlich unterschätzen manche Kuratoren und Künstlerinnen den islamistischen Terror der Hamas und seine Folgen.“ (Kia Vahland, SZ 24.11.23) Es reicht nicht, den kritischen Fokus bei diesen Betrachtungen nur auf Westeuropa und seinen Kolonialismus zu richten. Die imperialistische Macht der Gegenwart ist Russland. Und was werden die widerständigen Schülerinnen aus Teheran wohl über den islamistischen Fundamentalimus denken? Die Künstler und Kuratorinnen sollten ihre Aufmerksamkeit auf die

Bildpolitik im Gazakrieg

richten. „Die Hamas nimmt das entsetzliche Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser, ihre Ohnmacht und ihr Sterben nicht nur in Kauf, sie braucht und will genau diese unerträglichen Bilder, so wie sie zu Anfang des Krieges auch genau die unerträglichen Bilder vom Überfall auf Israel wollte und nutzte.“ Und in Europa können wir nur mit Rücktritten die Kunst nicht retten. Das würde wieder den Rechtspopulisten in die Hände spielen, die nur zu gerne die Kunstszene abwickeln würden. Das Verdienst der Kunst ist es, eine Vielzahl an Perspektiven, Fantasien und Erfahrungen zu zeigen. Große Kunst ist dem Humanismus verpflichtet.

4589: Das Mysterium Hannah Arendt – Martin Heidegger

Montag, November 20th, 2023

Elisabeth Young-Brühls Hannah Arendt-Biografie ist 1986 erschienen. Sie hat uns seinerzeit weit nach vorne gebracht. Nun ist Thomas Meyers Biografie

Hannah Arendt. Die Biografie. München (Piper) 2023, 528 S., 28 Euro,

erschienen. Sie bringt uns noch weiter. Ein faszinierendes, gut lesbares Buch. Die größte politische Philosophin des 20. Jahrhunderts erscheint hier auch als praktische Politikerin (in Frankreich ab 1933). Der Rezensent der „taz“ (17.10.23), Klaus Bittermann, unternimmt etwas, das bisher gefehlt hat. Er geht ein auf die kaum zu verstehende

Liebesbeziehung

zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger. Hannah Arendt und der verklemmte Nazi.

Bittermann schreibt: „auch wenn Meyer im Verlaufe des Buches auf einige Belege hinweist, die das Unbehagen Arendts gegenüber Heidegger deutlich machen, so wird es wohl auf ewig ein Rätsel bleiben, warum Arendt in der Lage war, die Person Heidegger von ihrem völkischen Denken zu trennen und davon auszugehen, dass seine Philosophie unschuldig sei, obwohl kein anderer philosophischer Entwurf so eng mit dem zusammen ging, was man als das Leben selbst bezeichnen könnte. Auch wenn das nicht zentral im Buch verhandelt wird, spielt das letztlich unbewältigte und merkwürdige Verhältnis zwischen den beiden immer wieder eine Rolle.“

Das Mysterium Hannah Arendt – Martin Heidegger bleibt.