3550: Angela Merkel war keine Klimakanzlerin.

Prof. Dr. Claudia Kemfert, 52, leitet die Energie- und Klimaabteilung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und ist Vizevorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen. Sie wurde von Michael Bauchmüller (SZ 4./5.9.21) interviewt:

SZ: Frau Kemfert, 2010 hat die Regierung von Angela Merkel die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert – und 2011 im Handstreich gekürzt. Was war der größere Fehler?

Kemfert: Dieser doppelte Ausstieg vom Ausstieg war ein unnötig teures Unterfangen, auch durch die immensen Entschädigungen für die AKW-Betreiber. Der viel größere Fehler aber war, dass man nie die gesamte Energiewende im Blick hatte, sondern immer nur über Atomkraft diskutiert hat. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wurde nicht konsequent angegangen, aber vor allem der Umgang mit Kohle wurde politisch ignoriert. Man hielt stur daran fest: Kohle war nahezu sakrosankt. Diesen klimapolitischen Fehler bezahlen wir heute doppelt – mit hohen CO2-Emissionen und unnötigen Abfindungen für den nun unvermeidlichen Kohleausstieg.

SZ: Als Merkel antrat, betrug der Ökostromanteil zehn Prozent. Nun sind es fast 50.

Kemfert: Das klingt wie eine Erfolgsgeschichte , ist aber keine. Der Anteil erneuerbarer Energien könnte heute schon bei 80 Prozent liegen, wenn die Kanzlerin gewollt hätte. Die erneuerbaren Energien wurden immer mehr ausgebremst. Man hat das Fördersystem so verändert, dass sich Investitionen weniger rechnen. Man hat zu wenig für die Energiewende geworben und stattdessen Diskussionen über angeblich ausufernde Kosten angezettelt. Hätte Merkel das Projekt wirklich am Herzen gelegen, dann hätte sie das alles nicht zugelassen. Nein, von zehn auf 50 Prozent ist weit unter unseren Möglichkeiten. Von zehn auf 80, das wäre einer starken Ingenieursnation wie Deutschland würdig gewesen!

SZ: Also ist sie gar keine Klimakanzlerin?

Kemfert: In den ersten Jahren ihrer Amtszeit war sie das, da hat sie auch international viel bewegt. Danach hat das stark nachgelassen, was auch an den jeweiligen Koalitiomnen gelegen haben mag. Aber in Sachen Klima und Energiewende hätte sie definitiv mehr aus ihrem Amt machen können. Da war mehr drin.