3155: Paul Celan 100

1. Am 23. November 1920 wurde der Autor der „Todesfuge“, Paul Celan, als Paul Antschel (Ancel) in Czernowitz/Bukowina in eine jüdische Familie geboren. Czernowitz hatte ursprünglich zu Österreich-Ungarn gehört, bei Celans Geburt war es rumänisch, gehörte dann zur Sowjetunion und heute zur Ukraine (Anna Prizkau, FAS 22.11.20).

2. In Celans Familie wurde das Deutsch gepflegt, wie es am Wiener Burgtheater gesprochen wurde. Auf der Schule sprach Celan auch hebräisch und rumänisch (Moshe Barash, Die Literarische Welt, 21.11.20). Später fließend französisch.

3. Nach Auskunft von Celans Schulkameraden Petro Rychlo ist Ancel eine Diminutivform von „Enosch“ und heißt Mensch („Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan.“ Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Petro Rychlo. Berlin/Suhrkamp 2020).

4. Das Anagramm Celan als Namen bekam Paul Celan von der Frau seines Kollegen Alfred Margul-Sperber, der im Gegensatz zu dem zierlichen Paul Celan ein etwa zwei Meter großer Riese war.

5. Paul Celan hatte ein Nazi-Arbeitslager überlebt. Seine Eltern wurden im Holocaust ermordet.

6. Über Bukarest kam Celan nach Wien, wo er Ingeborg Bachmann (1926-1973) kennenlernte. Sie wurden für kurze Zeit ein Paar.

7. 1948 ging Celan nach Paris, wo er letzlich an der Sorbonne Lektor für Deutsch wurde. Seit seiner Pubertät hatte er sich als Lyriker betätigt. Viele hielten ihn für äußerst begabt. Seine Vorbilder waren Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Stefan George (Lothar Müller, SZ 23.11.20).

8. Celans Lyrik war weithin vom Holocaust und anderen menschlichen Katastrophen bestimmt. 1944 war zum ersten Mal die „Todesfuge“ auf rumänisch erschienen, unter dem Titel „Todestango“ („Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends“).

9. Die Einladung Celans zur Jahrestagung der Gruppe 47 nach Niendorf an der Ostsee 1952 auf Vermittlung von Ingeborg Bachmann führte zu einem großen Missverständnis. Die „Obergefreiten“ der Gruppe 47 verstanden Celans Vortragsstil nicht, der sich an der Rhetorik Alexander Moissis (1879-1935) gebildet hatte. Moissi war albanisch-italienischer Abstammung, hatte aber östereichische Schulen besucht, und machte in Berlin unter Max Reinhardt eine steile Karriere als Schauspieler. Hans Werner Richter hörte bei Celan den „Tonfall von Goebbels“. Ein größeres Missverstehen gibt es nicht.

10. Paul Celan hatte eine Stimme, wie es wohl keine andere gab. Eine hohe zwischen Mezzosopran und Alt liegende Stimme.

11. Die nächste Katastrophe wurde von der Witwe des jüdischen Lyrikers Yvan Goll, Claire Goll, inszeniert. Sie bezichtigte Celan des Plagiats. Das wurde begierig von Rassisten und Nazis wie Hans Egon Holthusen und Günter Blöcker aufgegriffen. Blöcker vertrat die bekannte Richard-Wagner-These, dass Juden keine Kunst schaffen können. Die Schlüssigkeit und die antisemitische Schlagseite der Celan-Gegner bedrückt uns heute.

12. 1952 hatte Celan Gisèle de Lestrange geheiratet, eine französische Künstlerin.

13. 1967 hat Paul Celan den Nazi-Spießer Martin Heidegger auf dessen Hütte in Todtnauberg zu einem denkwürdigen Treffen besucht. Anscheinend ein schwerwiegendes Missverständnis. Heidegger ging natürlich mit keinem Wort auf sein Fehlverhalten im Nationalsozialismus ein (u.a. Freiburger Rektoratsrede 1933, den „Führer führen“).

14. Über seine Czernowitzer Bekannte Ilana Shmueli (1924-2011), eine Israeli, die dann in den sechziger Jahren seine Geliebte wurde, kam Paul Celan in Kontakt mit Israel. Er entwickelte die Vorstellung, dort zu leben, hielt es aber 1969 nicht länger als 17 Tage aus. Wohl weil er in Israel als „deutscher Schriftsteller“ wahrgenommen wurde. Seine Heimatlosigkeit setzte sich fort.

15. Helmut Böttiger unternimmt in der SZ (23.11.20) den Versuch, Paul Celan vor vielen Missverständnisen zu bewahren und, vor allem, zu belegen, dass Celan selbst der „Todesfuge“ (1944) nach ein paar Jahren skeptisch gegenübergetsnaden habe, ja, dass das Gedicht einen Wendepunkt in seinem Werk darstellt, von dem aus Celan immer sachlicher und radikaler geworden sei.

16. Böttiger zitiert Celans Meinung über Poetik aus dem Jahr 1958: „Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sie her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also (…) , eine ‚grauere‘ Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ‚Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.“

17. Danach geht es bei Celan „um Vieldeutiges, um Ambivalenzen, um etwas Unauslotbares, es geht um die Leerstellen und Zwischenräume, um Assoziationsflächen und Wortvalenzen“.

18. Für mich bleibt Paul Celan immer auch der Dichter der „Todesfuge“, in der er die Schoa und unsere Schuld in einmaliger Weise charakterisiert.

19. Unter dem Druck der vielen Verleumdungen, Missverständnisse und unbegründeten Beschuldigungen wurde Paul Celan psychisch krank. Er verließ seine Familie.

20. 1970 ging er wahrscheinlich von der Pont Mirabeau in die Seine. Bei Ingeborg Bachmann heißt es in „Malina“: „Er ist auf dem Transport im Fluss ertrunken“. Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.