2349: Klaus Gietinger baut auf die Matrosen 1918/19.

Klaus Gietinger ist d e r Experte für die Analyse der deutschen „Revolution“ 1918/19. Sein Buch über die Ermordung Rosa Luxemburgs

„Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs“,

erweiterte und überarbeitete Neuauflage 2009 (erste Auflage 1995), ist ein Standardwerk. 2018 erschien von ihm

„Karl Marx, die Liebe und das Kapital“,

Frankfurt/Main, 312 S., in dem er Marx‘ private Seiten ins Kalkül zieht. Dabei weisen Gietingers Arbeiten politisch stets über das unmittelbare Thema hinaus und erlauben einen Blick in die Gegenwart. Hier (im Blog) ist Gietinger unter den Ziffern 1967 und 2247 besprochen worden. Der in Göttingen ausgebildete Schriftsteller und Wissenschaftler ist auch ein renommierter Filmemacher. Einige seiner Filme haben Kultstatus („Lond it luck“ 1979, „Land der Räuber und Gendarmen“ 1982 und vor allem „Daheim sterben die Leut'“ 1984). Er ist der Autor und Regisseur vieler Fernseh-Krimis.

Jetzt hat Klaus Gietinger ein neues Buch herausgebracht, von dem ich annehme, dass es Aufmerksamkeit erregen wird:

Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19. Münster (Unrast) 2019, 303 Seiten, 18 Euro.

Hier bewegt sich unser Autor wieder auf seinem ureigensten Terrain, der Revolution von 1918/19. Es ist ein wissenschaftliches Buch, das alle Vorläufer heranzieht und alle bisher zugänglichen Quellen akribisch auswertet. Trotzdem enthält es manche Emotion, auf die noch einzugehen sein wird. Vorhanden sind eine Liste der sieben Kommandanten der Volksmarinedivision (VMD) und eine Liste ihrer 54 Getöteten (anderswo würde es heißen: Gefallenen), wahrscheinlich kamen in den Kämpfen von Januar und März 1919 weit mehr Angehörige der VMD ums Leben (Die Namen sind den aktuellen Arbeiten von Dieter Baudis und Hermann Roth entnommen.). Dazu führt Gietinger die wichtigsten Personen in Kurzbiografien auf. Darunter u.a. Emil Barth, Wilhelm Dittmann, Emil Eichhorn, Karl Grünberg, Leo Jogiches, Albin Köbis, Paul Levi, Richard Müller, Wilhelm Pieck, Max Reichpietsch und viele andere. Die Anmerkungen umfassen 38 Seiten. Der Band führt die Filme zum Thema auf und enthält ein Abkürzungsverzeichnis. 40 Fotos bzw. Faksimiles sorgen für Anschaulichkeit.

Gietinger schildert den preußisch-deutschen Militarismus und – Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg. Es wird klar, in welche falsche und gefährliche Politik deutsche Weltmachtträume führten. Die deutsche Flottenpolitik führte entscheidend mit zum Krieg. Aber die britische Marine blieb stärker als die deutsche. Verbände wie der Alldeutsche Verband hetzten gegen das Ausland. An die Spitze dieser brandgefährlichen Politik setzte sich der Hohenzoller Wilhelm II., dessen bekannte Interviews den Krieg heraufbeschworen. Das ist alles im Wesentlichen bekannt und unbestreitbar. Sebastian Haffner und Joachim Käppner haben dazu faktengesättigte und problembewusste Bände vorgelegt, die von Klaus Gietinger berücksichtigt werden. Mit der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD 1914 kam es zu der tiefen Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, die bis heute weiter existiert.

Zugleich herrschten in der kaiserlichen Marine menschenunwürdige Zustände. Die Matrosen bezeichneten sich als „Kulis“. Es gab Hungersnöte und schlechte Ausrüstung. Blutjunge Offiziere aus dem Adel und dem Bürgertum trieben ihr am „Herrenmenschentum“ orientiertes Unwesen. Menschenrechte spielten keine Rolle. Auf die Spitze getrieben wurden diese Zustände in der mörderischen Skagerrakschlacht 1916. Danach gab es Hungerrevolten und ein Nachdenken über einen Generalstreik bei den Matrosen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung war den meisten von ihnen nicht bewusst, es waren viele von ihnen politisch relativ ungebildet. Es kam zu den ersten noch vorsichtigen Sabotageaktionen. Bewaffnete Gruppen bildeten sich („Schwarze Katzen“). Die Forderung der von einzelnen charismatischen Leitern geführten Matrosen lautete nun „Frieden ohne Eroberungen“. Damit war der antagonistische Widerspruch zwischen der politischen und militärischen Führung einerseits und den Matrosen, die überwiegend aus Arbeitern bestanden, auf der anderen Seite unüberbrückbar geworden.

Und die SPD, jedenfalls ihre Führung unter Friedrich Ebert und Gustav Noske, fürchtete hauptsächlich, wie bekannt, einen bolschewistischen Umsturzversuch und verbündete sich mit der politischen Reaktion und der Obersten Heeresleitung. Besonders auf dem rechten Flügel (Philipp Scheidemann, Eduard David, Carl Legien, Wolfgang Heine, Carl Severing, Otto Wels, Gustav Bauer) wurde diese Politik betrieben. Die Matrosen meuterten. Und in Kiel, Wilhelmshaven und anderen Küstenstädten kam es im November 1918 zu Revolten. In den „Hamburger Punkten“ verlangten die Matrosen eine radikale Demokratisierung der Armee, eine richtige Volkswehr.

Zum Schutz der Regierung der Volksbeauftragten nach dem Rücktritt des Kaisers wurden Matrosen nach Berlin beordert. Andererseits versuchten Militärs, die Mannschaften auf die Seite der Konterrevolution zu ziehen. Bürgerkriegsähnliche Verhältnisse traten ein, bei denen nicht in erster Linie demokratische Korrektheit auf der Tagesordnung stand. Die Volksmarinedivision wurde gegründet und hatte bald 1.500 Mitglieder. Nicht nur im Berliner Zeitungsviertel wurde gekämpft. Die von der Armee unterstützten Freikorps trieben bereits ihr mörderisches Unwesen. Die Justiz war eine Klassenjustiz und promilitaristisch. Die Matrosen und die gesamte Arbeiterbewegung waren gespalten. Das zeigte sich bei den Aufständen im Januar und März 1919.

Den gesamten, durchaus sehr komplizierten Stoff beherrscht Klaus Gietinger. Er sympathisiert mit der Volksmarinedivision (VMD) und sieht in ihr auch heute ein „Vorbild“. Für Gietinger hätte sie der Hebel sein können, um den preußisch-deutschen Militarismus zu zerschlagen. „Die deutsche Sozialdemokratie hat es nicht zugelassen. Ein Makel, der ihr immer anhängen wird.“ (S. 229) So gerne ich mich davon überzeugen lassen würde, kann ich zwei Bedenken nicht wegdiskutieren: 1. Wie kann man von den „bürgerlichen und kleinbürgerlichen Massen“ reden, sie verdammen und alle Hoffnung auf das Proletariat (die Matrosen) setzen. Das Proletariat war doch die von der herrschenden Klasse systematisch unten gehaltene Klasse (Bildung, Ausbildung, Bezahlung usw.). Das ist Ideologie bei Gietinger. 2. Bei der Schilderung der sozialdemokratischen Politik, die gewiss kritikwürdig ist, gerät der Autor zu sehr in die Nähe der Sozialfaschismus-These. Diese kommunistische These besagte bekanntlich, dass nicht der Faschismus die eigentliche politische Gefahr darstellte, sondern der Sozialfaschismus in Form der SPD. Dies ist nicht von den Fakten gedeckt und war Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts eine verhängnisvolle Fehleinschätzung.