2917: Dieter E. Zimmer ist tot.

Er galt als letzter „Universalfeuilletonist“, gesegnet mit einem „unendlich aufnahmefähigen Gehirn“, der Feuilletonchef der „Zeit“ (1973-1977), Dieter E. Zimmer, der im Alter von 85 Jahren in Berlin gestorben ist. Er erschien als „intellektuell unbestechlich“. Sein Nachfolger als Feuilletonchef der „Zeit“ war Fritz J. Raddatz. Zimmer war bereits 1959 zur „Zeit“ gekommen. Marcel Reich-Ranicki, der Zimmer als Kollegen sehr gut kannte, schrieb über ihn: „Wir verdanken ihm mehr als den meisten Lyrikern und Romanciers unserer Tage.“ Seit 2000 arbeitete Zimmer als freier Autor.

Er hatte Literatur- und Sprachwissenschaft in Berlin, Genf und den USA studiert und war ein anerkannter Übersetzer. Übersetzt hatte er u.a. Vladimir Nabokov, James Joyce und Jorge Luis Borges. Er ist Herausgeber der deutschen Gesamtausgabe Nabokovs. Zimmer begleitete die Gruppe 47 bis nach Princeton und auf den Mont Ventoux. Er verteidigte Hans Wollschlägers „Ulysses“-Version.

Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Zimmer auch als Wissenschaftsautor tätig. Er beschäftigte sich mit Spracherwerb, Intelligenzforschung und Ökologie. Zwischendurch polierte er seine Übersetzungen immer wieder auf. Er trat für Nabokov ein, als dieser noch als Schmuddelautor galt. „Lolita“ ist auf deutsch sein Werk (Willi Winkler, SZ 29.6.20).

Einen Markstein setzte Dieter E. Zimmer in seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, der er äußerst kritisch gegenüberstand. Er sprach von ihr als dem „Aberglauben des Jahrhunderts“ („Die Psychoanalyse hat den Wahrheitsbeweis für ihre Lehre nicht erbringen können.“, in „Die Zeit“ 5.11.1982, S. 17-21).

Er stützte sich nicht zuletzt auf den Begründer des „kritischen Rationalismus“, Karl Raimund Popper. „Den knappsten und schärfsten allgemeinen Einwand hat Karl Popper vorgebracht. Die Schwäche der Psychoanalyse bestehe eben in ihrer vermeintlichen Stärke: dass sie für alles eine Erklärung habe. Eine echte wissenschaftliche Theorie zeichne sich durch Falsifizierbarkeit aus: Sie formuliere riskante und widerlegbare Hypothesen. Die Psychoanalyse jedoch sei durch kein vorstellbares menschliches Verhalten widerlegbar. Ihr Status sei der eines Erweckungsglaubens oder der Astrologie – eine Sache für ‚Schwachköpfe‘.“ 1986 bezeichnete Zimmer die Psychoanalyse als „Wahrsagerei für Intellektuelle“ (Die Zeit 12.12.1986, S. 58). Im gleichen Jahr erschien sein Buch „Tiefenschwindel“.

In der Hirnforschung gilt es heute als ausgemacht, dass drei Annahmen Sigmund Freuds zutreffend sind. In den Worten des Neurobiologen Gerhard Roth: „Das Unbewusste hat mehr Einfluss auf das Bewusste als umgekehrt; das Unbewusste entsteht zeitlich vor den Bewusstseinszuständen; und das bewusste Ich hat wenig Einsicht in die Grundlagen seiner Wünsche und Handlungen.“ (Elisabeth von Thadden, Die Zeit 23.2.2006, S. 33-34)