4535: Kehlmanns neuer Roman „Lichtspiel“

In seinem neuen Roman

Lichtspiel. Hamburg (Rowohlt) 2023, 480 Seiten, 26 Euro,

beschäftigt sich Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) ausführlich mit der deutschen Filmgeschichte. Stars wie Fritz Lang, Greta Garbo, Leni Riefenstahl und Heinz Rühmann treten auf.

Vor allem aber der österreichische Regisseur Georg Wilhelm Pabst (1885-1967), dessen Rolle bei Unkundigen weithin unterschätzt wird. Er war ein Hauptvertreter der „Neuen Sachlichkeit“ und der Entdecker Greta Garbos. die neben Asta Nielsen schon in seinem Stummfilm „Die freudlose Gasse“ (1925) auftrat. Pabst hatte die Regie bei „Geheimnisse einer Seele“ (1926), sozusagen der Standortbestimmung der Psychoanalyse seinerzeit, und bei „Die Büchse der Pandora“ (1929). Bertolt Brecht „Dreigroschenoper“ richtete er 1931 für das Kino ein. In „Westfront 1918“ (1930) und „Kameradschaft“ (1931) setzte er sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinander. Er galt als der „rote Pabst“ und wird von uns Filmfans hoch geschätzt. Nach 1933 hatte er es schon nach Frankreich und Hollywood geschafft, ohne dort ökonomisch zu reüssieren, als er 1939 nach einem Besuch bei seiner Familie Deutschland nicht mehr verlassen konnte. Fortan machte er nach einem hoch verlockenden Angebot von Joseph Goebbels Propagandafilme für die Nazis, filigran und hochdifferenziert. So etwa „Komödianten“ (1941) und „Paracelsus“ (1943). Auch nach 1945 machte er weiter Filme. So etwa den Widerstandsfilm „Es geschah am 20. Juli“ (1955).

Eine Person also, die für Daniel Kehlmann sehr viel Stoff bietet. Sowohl zum Beschreiben als auch zur Analyse. Leider bleibt er dabei zum Teil wie in einer Nummernrevue hängen. Einige Personen bekommen keine psychologische Tiefe. In einer Rede zur Literatur hatte Kehlmann über ihre Offenheit geschrieben: „um historische Figuren in erzählender Prosa (sei) immer ein Flackern, eine Unsicherheit, eine Grundverwirrung, die wir im Theater oder im Film nicht erleben“. Der Film erzählt auch, dass Pabst seinen hochbegabten Sohn nicht fördert, um ihn zu einem gehorsamen Hitlerjungen zu machen. Wahrscheinlich will Kehlmann uns hier die Gefährdung von Kunst und Künstlern in der Diktatur zeigen, die der Autor selbstverständlich genau kennt. So schreibt er etwa in einem Interview mit Felix Stephan (SZ 7./8.10.23) über Heinz Rühmann, einen der ganz großen Stars des deutschen Films: „Rühmann ist ein interessanter Fall, weil er zwar Kompromisse eingegangen ist, aber keine indiskutablen. Man kann ihn beim besten Willen keinen Nazi nennen, aber er hat unter den Nazis Filme gedreht. Er hat sich von seiner jüdischen Frau scheiden lassen, es aber so eingerichtet, dass sie versorgt und in Sicherheit war. Es ist nicht einfach, ihm Vorwürfe zu machen. Aber ich möchte wiederum auf keinen Fall sagen: Wir Nachgeborenen dürfen uns kein Urteil erlauben. Wir müssen uns sogar unbedingt ein Urteil bilden.“

Das stimmt.

(Carsten Otte, taz 9.10.23; Cornelius Pollmer, SZ 11.10.23)