4058: Florian Illies liebt Gottfried Benns Gedichte immer noch.

In einem Kurzessay (Zeit, 6.10.22) erläutert Florian Illies uns, dass und warum er Gottfried Benns Gedichte immer noch liebt:

„Denn ich wurde zu oft enttäuscht in meiner naiven Hoffnung, dass die sanfte Weisheit und schwingende Wehmutsmelodie der Gedichte Benns von einer zartbesaiteten Seele stammen müsse. Doch nein, je tiefer man sich hineinbegibt in seine Biografie, in die schnöde Eiseskälte, mit der er seine Geliebten abserviert und seine Tochter abschiebt, und in den blinden Wahn, mit dem er 1933 die Nazis begrüßt, umso fremder wird er einem – und umso fremder werde ich mir: Wie nur kann ich die Gedichte dieses Menschen lieben? Wieso kann ich mich in Gedichten von jemandem finden, der so verloren war? Gottfried Benn schrieb aus seiner Lust am Untergang Verse, die unsinkbar sind. Dieses Paradox muss aushalten, wer ihm verfallen ist. Er saß missmutig und verloren in seiner düsteren Praxiswohnung im Erdgeschoss am überfüllten Schreibtisch voll Zetteln und Aschenbechern, leichter Zigarettenrauch vernebelte den Raum. Aus diesem Zwielicht der Vierziger- und Fünfzigerjahre steigen nur seine Verse manchmal aus dem Parterre auf, in die Zukunft, zu uns.

Ganz gemäß dem vielleicht größten der Bennschen Verse: ‚Leben ist: Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.‘ Nur dort, in den geschwungenen Brücken und den ehernen Pfeilern seiner Gedichte, kann man Benn finden. Nicht im Fluss darunter, nicht bei den Menschen, die er noch getroffen hat, nicht in den lapidaren Weihnachtskarten oder Rezeptzetteln für Schlafmittel, nicht in den Bänden seiner Briefe, nicht an seinem Grab, und auch nicht am Bayerischen Platz, an dem er wohnte. Benn selbst steckt nur in seinen Versen. Näher kann man ihm nicht kommen. Er zwingt jeden zur Fernbeziehung. Als wisse er, dass nur so unsere Sehnsucht nie versiegen wird.“

W.S.: Wir erinnern uns wehmütig an unsere Lesung von Benn-Gedichten am 2. Mai 1986, seinem hundertsten Geburtstag, um 22.30 Uhr im Jungen Theater Göttingen.