3910: Die 15. Documenta ist eröffnet.

Die 15. Documenta ist eröffnet. Sie bietet uns sehr viel. Manches Unerwartete. Und nicht alles mögen wir. Die erste Documenta 1955 wurde mit dem Anspruch gegründet, Deutschland zu demokratisieren und es nach der NS-Zeit der internationalen Kunst und den Avantgarden zu öffnen. Der Gründer der Documenta, Arnld Bode, ein Kasseler Professor und Künstler, sagte: „Die Ausstellung soll  nur Meister zeigen, deren Bedeutung für die Gegenwart nach strengster Auswahl unbestreitbar ist, jeweils in wenigen entscheidenden Werken von letzter Qualität. Für Deutschland: Brückekreis, Bauhauskreis, Neue Generation.“ Bode zeigte uns Kandinsky, Klee, Matisse, Beckmann, Lehmbruck. Das verstanden wir und genossen es. Inzwischen gilt die Documenta als die bedeutendste Ausstellung zur zeitgenössischen Kunst weltweit. Natürlich wissen wir, dass Bodes Kurator, Werner Haftmann, aus dem Nationalsozialismus kam. Aber das tat Joseph Beuys ja auch.

Die alle fünf Jahre stattfindende Documenta nahm eine rasante Entwicklung. Etwa hin zur „Besucherschule“ Bazon Brocks. 2017 fand sie in Kassel und Athen statt. Die Internationalisierung schritt voran. Der globale Norden war nicht mehr tonangebend. Die 15. Documenta wird von der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa verantwortet. Sie kam gleich in Verdacht, die israelkritische Organisation BDS („Boykott, Divestment and Sanctions“) zu fördern, die vom Bundestag als antisemitisch gekennzeichnet worden war. Nun, das muss sich zeigen.

Die Entwicklung ging immer weiter weg von der Kunst, hin zur politischen Aktion.

Dabei mag ich doch auch das Schöne.

Kulturelle Verhaltensweisen bekamen Vorrang vor ästhetischer Produktion. Heute deklarieren die Ausstellungsmacher, dass sie die angebliche Alternativlosigkeit kapitalistischer Gesellschaften nicht mehr hinnehmen wollen. Der Westen und das Wirtschaftswachstum sind in Verruf geraten. Kaum etwas von der Kunst auf der Documenta ist komplett durchkomponiert oder von bleibendem materiellen Wert. Dafür zählen Teamgeist, gute Laune, Gerechtigkeitssinn, Respekt vor der Natur und die Bereitschaft ins Offene zu gehen. In Kassel können die 1.500 angereisten Künstler die Schranken des eigenen Denkens und Fühlens durchbrechen. Deutschland gilt dabei mit seiner ewigen Nabelschau als das Land, das sich zu viel mit sich selbst beschäftigt.

Auf der Documenta werden Subversion und Widerstand gefeiert. Die Künstler fühlen sich nicht mehr der Autonomie der Kunst verpflichtet, ihnen geht es um ihre eigene Autonomie. Manche lokalen Konflikte nehmen viel Raum ein, während die großen Aggressoren, etwa Russland und China (dazu später kurz noch mehr), kaum vorkommen. Geschichte wird hier von unten betrachtet. Es herrscht eine prinzipielle antiwestliche Grundstimmung. Vielen auf der Documenta vertretenen Gruppen geht es um die Dokumentation des eigenen kulturellen Erbes und um die Selbstbehauptung, die damit verbunden ist. Zum Glück ist die Finanzierung der Documenta ja durch westliche Modelle gewährleistet.

Als einzige Zeitung leistet sich wieder einmal die „taz“ (Andreas Fanizadeh, Pfingsten 2022) einen sehr kritischen Blick darüber hinaus. Sie nimmt nämlich den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine in den Blick. Russland hat in der letzten Zeit ja ständig solche Kriege geführt (Georgien, Tschetschenien, Krim, Syrien). Die „taz“ nimmt sich den sozialistischen Realismus und damit den Stalinismus vor. Sie nennt den „proletarischen Internationalismus“ die eine große Propagandalüge, die „Liebe“ unter den sozialistischen „Brüdervölkern“ die andere. So wird allmählich ein ganzer Kunst-Schuh daraus. Und die Kunst kann umfassend betrachtet werden. Sie wird nicht zu einer antiwestlichen Propagandashow verkommen.

„Die politische Haltung sollte sich keineswegs immer eins zu eins in der Kunst abbilden. Siehe sozialistischer Realismus. Genau so wenig lassen sich Debatten über das System Kunst unisono international vereinheitlichen. In Teilen Indonesiens, des Herkunftslands des documenta-Kuratorenteams, herrscht beispielsweise die Scharia, aufgeklärte städtische Lebensweisen stehen unter Druck. Einen Wohlfahrtsstaat oder entwickelten Kunstmarkt gibt es nicht. Auch keine kollektive Erinnerungskultur, die an den Völkermord an der chinesichstämmigen Minderheit erinnern würde. Das postkoloniale Suharto-Regime ließ 1965/66 Hundertausende (Schätzungen sprechen von bis zu drei Millionen Menschen) systematisch ermorden.“

(Andreas Fanizadeh, taz Pfingsten 2022; PFU, SZ 17.6.22; Catrin Lorch, SZ 17.6.22; Till Briegleb, SZ 17.6.22; Kia Vahland, SZ 18./19.6.22; Jörg Häntzschel SZ 18./19.6.22)