3532: H.A. Winkler über die Fehler des Westens in Afghanistan

Der Historiker Prof. Dr. H. A. Winkler, 82, ein Sozialdemokrat, der bis 2007 Geschichte an der Humboldt-Universität in Berlin gelehrt hat, gibt Marc Reichwein in einem Interview (Lit. Welt 21.8.21) Auskunft über die Fehler des Westens in Afghanistan.

Lit. Welt: Zwanzig Jahre lang gaben sich die westlichen Länder der Illusion hin, in Afghanistan Menschenrechte und Demokratie aufzubauen. Dann werden die Truppen abgezogen, und im Handstreich sind die Taliban wieder an der Macht. Wie bewerten Sie die Situation?

Winkler: Es ist ein Desaster für den gesamten transatlantischen Westen. Die Irrtümer der ersten Stunde rächen sich. Die Annahme, man könne ein sehr stark von islamistischen Fundamentalismus geprägtes Land wie Afghanistan binnen weniger Jahre in eine westliche Demokratie verwandeln, war naiv. Insbesondere das Nation Building war eine Illusion. Im Nachhinein wäre es vernünftig gewesen, die Intervention in Afghanistan nach der militärischen Ausschaltung von al-Quaida abzuschließen. Für das Debakel sind alle westlichen Nationen verantwortlich, an erster Stelle die USA. Es ist bestürzend zu sehen, wie die amerikanischen Geheimdienste, das Pentagon und das unter Trump ausgedünnte State Department sich in der Analyse vertan haben. Auch Biden muss sich vorwerfen lassen, die aktuelle Situation falsch eingeschätzt zu haben. …

Die deutsche Beteiligung am Engagement der NATO in Afghanistan war ebenso gerechtfertigt wie das deutsche Nein zur Beteiligung an dem völkerrechtlich nicht legitimierten Krieg in Irak. Bei solchen Entscheidungen kommt es darauf an, vom Ende her zu denken, also die voraussehbaren Konsequenzen, Kosten und möglichen Entwicklungen einzukalkulieren. Deswegen kann jede Entscheidung über einen Auslandseinsatz der Bundeswehr nur von Fall zu Fall getroffen werden. Der Fall Afghanistan unterstreicht die Notwendigkeit einer systematischen Abwägung möglicher Folgen eines westlichen Engagements.

Lit. Welt: Von postkolonialistischen Autoren wird die singuläre Stellung des Holocaust in der deutschen Gedenkkultur zunehmnend infragegestellt und als „Katechismus“ der Deutschen kritisiert. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?

Winkler: Die verstärkte Beschäftigung mit den deutschen Kolonialverbrechen, vor allem dem Völkermord an den Herero und Nama auf dem Gebiet des heutigen Namibia, ist dringend notwendig. Nur: Vergleichbares gab es auch bei anderen Kolonialmächten, die später keine Entwicklung zu einem radikalfaschistischen System genommen haben, sondern Demokratien blieben. Die Ermordung der europäischen Juden, die Zentraltatsache der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, ist kein Genozid unter anderen.