3294: Gesine Schwan will Gemeinsamkeiten.

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gesine Schwan ist Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Für die SPD hat sie zweimal für das Amt der Bundespräsidentin kandidiert. Im Anschluss an einen Beitrag des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) in der FAZ (22.2.21), in dem er vor der Radikalisierung von Diskursen warnt, plädiert Gesine Schwan für mehr Toleranz und Gemeinsamkeiten im Diskurs. Thierse und Schwan warnen vor Identitätspolitik. So lehnen sie die Figur des „alten weißen Mannes mit heterosexueller Orientierung“ als Identitätsbeschreibung ab. „Die Rede vom strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft verleiht diesem etwas Unentrinnbares, nach dem Motto: ‚Wer weiß ist, ist schon schuldig.'“

Es geht dabei um die Frage, wie Diversität (Verschiedenheit) zur Norm werden kann. Oder müssen wir auf die Kategorie des Normalen ganz verzichten? Weithin haben etwa 50 Prozent der Schulanfängerinnen und -anfänger heute schon keine deutschen Wurzeln mehr. Oder sollen wir in unterschiedliche „Communities“ zerfallen, die jede für sich eine kollektive Identität beanspruchen und damit auf dem Weg zur Exklusion Anderer sind? Kollektive Identität lässt Individuen (Träger der Menschenrechte) gar nicht mehr die Entscheidung darüber, wohin und zu wem sie gehören wollen. Diese kollektive Identität ist ein Zwangsinstrument.

Identität ist ja nichts einfach Gegebenes, sondern sie entsteht durch Erinnerung und freiwillige Identifizierung mit gemeinsamen Zielen, Werten, Werken oder Vergangenheiten. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit muss in einen begründeten Zusammenhang gebracht werden. Je komplexer die individuellen und sozialen Identitäten ausfallen, desto besser für den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dazu gehört die Bereitschaft, auf andere zu hören. Populisten beschränken sich auf die moralische Verurteilung Anderer. Man prüft nicht mehr, man weiß ja immer schon.

„Hier ist unser aller herausfordernde Aufgabe, die Berechtigung von Ideologiekritik, die auch ‚harmlose‘ Gewohnheiten auf Vorurteile hin prüfen muss, gegen eine dogmatische Herleitung von ‚Urteilen‘ abzugrenzen, die aus sozialen Zugehörigkeiten deduziert werden. Denn exakt das ist umgedrehter Rassismus.“

Weißen grundsätzlich zu misstrauen, liegt nahe, muss aber unbedingt vermieden werden, wenn wir die Suche nach dem gemeinsamen Boden unserer Argumente nicht aufgeben wollen. Die Ansätze von Jürgen Habermas und Richard Rorty haben keine allgemein akzeptierten Antworten erbracht. Darüber müssen wir uns im Zeichen zunehmender kultureller Pluralisierung immer erneut verständigen. Auch wenn wir nicht jeden Tag alle mit allen alles neu verhandeln. Es braucht Verfassungen, Gesetze, kulturelle Gemeinsamkeiten. Aber sie gelten nicht selbstverständlich. Auf diese Weise kann anstelle der Angst, in die Minderheit zu geraten, die Zuversicht treten, dass wir gemeinsam aus eigenen Kräften eine freie Gesellschaft bauen können (SZ 27./28.2.21).

Gesine Schwan hat recht.