3036: Wie wir wurden, was wir sind.

Der berühmte und weithin anerkannte Historiker Heinrich August Winkler (geb. 1938), der hoch ausgezeichnet ist, hat die entscheidenden Bücher zum „Westen“ geschrieben:

1. Der lange Weg nach Westen. 2 Bände. München 2000,

2. Geschichte des Westens. 4 Bände. München 2009-2015,

3. Zerbricht der Westen? München 2017.

Nun legt er mit

4. Wie wir wurden, was wir sind. Eine kurze Geschichte der Deutschen. München 2020, 255 S.,

eine deutsche Geschichte vor. Wir fragen uns zunächst, ob das eigentlich nötig ist, kommen aber angesichts der „Vogelschiss“-Politik der AfD und der allgemeinen politischen Unbildung, die uns überall begegnet, zu dem Ergebnis: Es hat sich gelohnt.

Winkler legt seine Analyse in neun Kapiteln vor und kritisiert dabei – zu Recht – stets die deutschen „Sonderwege“. Erfreulich ist, dass das Buch um so differenzierter wird, je aktueller es ist. In einem Nachwort widmet sich der Autor sogar der Corona-Pandemie. Er dringt bis zu Nordstream 2 vor (S. 215). Selbstverständlich können wir bei der Kürze keine stilistische Brillanz erwarten. Die Darstellung ist dicht und nüchtern. Winkler zeigt uns die Zusammenhänge. Sehr gut!

Letztlich ist die Geschichte von Otto, dem Großen (912-973), Martin Luther (1483-1546), Friedrich, dem Großen (1712-1786) und Otto von Bismarck (1815-1898) eine Einheit, bei der einzelne Episoden sich gewiss stark von anderen unterschieden. Es gibt Konstanten: der Antisemitismus herrscht seit Martin Luther. Und die Reichsgründung „von oben“ 1871 hat sich zunächst stärker durchgesetzt als die Karlsbader Beschlüsse (1819). An der deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg hat Winkler keine Zweifel. Und er schreibt: „Der 30. Januar 1933 war also weder ein zwangsläufiges Ergebnis der bisherigen Entwicklung noch ein Zufall.“ (S. 85)

Für die Zeit nach 1945 stellt Winkler den politischen Gegensatz von Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD) in den Mittelpunkt. Er registriert die Rolle der „linksliberalen Medien“ („Spiegel“, „Zeit“, „Stern“, „Frankfurter Rundschau“ und „Süddeutsche Zeitung“) (S. 134). Er zeigt, wie sich die Bundesrepublik Deutschland im „deutschen Herbst“ vom Ende der siebziger Jahre als „krisenfest“ (S. 154) erwiesen hat. Und er zitiert Gustav Heinemann: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“ Die Funktion des Holocaust wandelt sich (seit dem Kosovokrieg) vollständig von der Delegitimierung deutscher Militäreinsätze hin zu ihrer Legitimierung. Nicht ganz gerecht wird Winkler der 68er Studentenbewegung, deren doktrinären Formen er wohl als junger Wissenschaftler zu nahe gekommen war. Immerhin erkennt er deren Kritik an der Elterngeneration an.

Heinrich August Winkler besitzt die Souveränität, Gerhard Schröders (SPD) Agenda 2010 Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (S. 202). Er dringt wesentlich tiefer als andere ein in die Ursachen für die aktuelle politische Spaltung in Deutschland: „Die tieferen Ursachen dieses Ost-West-Gefälles liegen in der Zeit vor der Wiedervereinigung. Anders als in der ‚alten‘ Bundesrepublik hatten sich in der einstigen DDR sehr viel ältere deutsche Staatsvorstellungen und Geschichtsbilder behauptet. Vorurteile gegenüber der westlichen Demokratie waren hier weiter verbreitet als dort, wo sich die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens über Jahrzehnte hinweg hatte vollziehen können und aus kontroversen Debatten eine selbstkritische Kultur erwachsen war.“ (S. 206)

Heinrich August Winkler hat eine insgesamt sehr dienliche, kurze deutsche Geschichte vorgelegt. Mögen viele davon profitieren.