3161: Houellebecq über Religion und Sexualität

In Michel Houellebecqs neuem Buch ist ein Interview mit Agathe Novak-Lechevalier enthalten, das sich u.a. mit Religion und Sexualität befasst (abgedruckt in der FAS 29.11.20).

FAS: In einem Interview 1996 versichern Sie, dass „alles Glück seinem Wesen nach religiös“ sei, und in „Volksfeinde“ vergleichen Sie den Atheismus mit einem „nicht endenden Winter“. Würden Sie das heute noch so sagen?

Houellebecq: Ja, ich bleibe dabei, dass alles Glück seinem Wesen nach religiös ist. Die Religion gibt uns das Gefühl, mit der Welt in Verbindung zu stehen, kein Fremder in einer gleichgültigen Welt zu sein – … Wir haben Angst vor einer Welt, mit der wir keine Gemeinsamkeit empfinden, und die Religion verleiht der Welt und unserer Stellung in ihr einen Sinn.

FAS: In „Plattform“ steht dieser Satz: „Womit lässt sich Gott vergleichen? Zunächst natürlich mit der Möse einer Frau.“ Sie haben in ihrem Werk sehr oft Sex und Religion verknüpft: Ist das reine Provokation?

Houellebecq: Nein. Es ist eine männliche Sichtweise, aber es ist keineswegs eine Provokation. Man muss bedenken, dass die ältesten von bestimmten primitiven Völkern verehrten Darstellungen männliche oder weibliche Geschlechtsorgane sind – vor allem jedoch weibliche, und das hat wahrscheinlich weniger mit Sex zu tun als mit der Fähigkeit, Leben zu schenken. Und auch wenn sie sehr alt sind, glaube ich nicht, dass die Tatsache, dass die Menschheit sich weiterentwickelt, die früheren Zustände auslöscht: Diese Zustände bleiben unterschwellig vorhanden. Sie sind von vielen übereinanderliegenden Zivilisationschichten bedeckt, bleiben aber potentiell aktiv. Es ist also keine Provokation: Man muss das ernst nehmen.