3585: NS-Prozesse gegen Hundertjährige ?

Die deutsche Justiz stellt eine 96-jährige Frau vor Gericht. Als Sekretärin des Lagerkommandanten von Stutthof ist sie der Beihilfe zum Mord in 11.412 Fällen angeklagt. Sie war zwischendurch aus dem Pflegeheim geflohen, um sich der Verurteilung zu entziehen. Die Polizei hat sie festgesetzt. Ein Hundertjähriger, der dem SS-Wachbatallon des KZ Sachsenhausen angehört hatte, ist vor Gericht der Beihilfe zum Mord in 3.518 Fällen angeklagt.

Muss das wirklich sein?

Deutlich wird dadurch die groteske Verspätung der deutschen Justiz. Erst seit dem Urteil gegen John Demjanjuk vor zehn Jahren beschäftigt sich die Justiz wieder mit den kleinen Helfern beim Massenmord. Und Mord verjährt nicht. Insofern muss das sein, so fragwürdig es uns erscheint. Denn Schmerz ist aus den Jahren der Massenvernichtung genug übrig geblieben

auf Seiten der Opfer.

„Die Achtung der Hinterbliebenen gebietet, Schuld zu benennen und Verantwortung offenzulegen, solange es möglich ist.“ Wer wissentlich einen Mörder unterstützt, ist der Beihilfe zum Mord schuldig. 1963 verurteilte das Landgericht Bonn mehrere Täter des Vernichtungslagers Chelmno, Wachtposten, Fahrer, Bauleiter. Sie alle hatten für die Massenvernichtung gearbeitet. Danach wurden jahrelang alle Verfahren eingestellt. Das belegt das Versagen der Justiz. „Es darf keinen Schlussstrich für die Verfolgung von NS-Tätern geben.“ Das Verbrechen war zu gewaltig und die Schuld zu groß.

1965 debattierte der Bundestag über die damals 20-jährige Verjährungsfrist. Der CDU-Politiker Ernst Benda, der spätere Präsident der Bundesverfassungsgerichts, argumentierte: Ja, wir stehen unter Druck, aber „keinem Druck des Auslands, sondern dem Druck der eigenen Überzeugung“. Die Frist wurde auf 30 Jahre verlängert, später ganz aufgehoben. Dass es nach so vielen Jahrzehnten dem Zufall überlassen ist, wer noch vor Gericht gestellt wird, nimmt diesen Verfahren nicht ihre Rechtsstaatlichkeit. „Gerichte können dies durch milde, symbolische Strafen kompensieren, und sie tun dies. Aber strafbares Unrecht aus Nazizeiten nicht mehr zu verfolgen, ist keine Option für Deutschland. Aus Respekt vor den Hinterbliebenen und aus Respekt vor sich selbst.“ (Wolfgang Janisch, SZ 8.10,21)