3544: Raul Hilberg – der erste Pionier der Holocaustforschung

Heute können wir es uns kaum noch vorstellen, wie lange es dauerte, bis Raul Hilbergs (1926-2007) Standardwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“ 1982 (ca. 800 Seiten) in dem kleinen Kreuzberger Verlag Olle & Wolter auf deutsch erscheinen konnte. Heute kriegt man es als Fischer Taschenbuch (1.351 Seiten) für 25,99 Euro. Diese Publikation wirft einen kritischen Blick auf die deutsche Verdrängung der Nazi-Verbrechen nach 1945.

Raul Hilberg wurde 1926 in Wien geboren. Er musste mit seinen aus Galizien stammenden Eltern seine Heimatstadt 1939 verlassen und kam in die USA. Mit 18 trat er in die US-Armee ein und wurde US-Staatsbürger. Im Zweiten Weltkrieg diente er in Europa. Hauptsächlich bei der Befragung von Kriegsgefangenen. Danach studierte er Politik und Geschichte an der Columbia-Unbiversität bei Franz Neumann („Behemoth“). Neumann gliederte die Nazi-Herrschaft in die vier Säulen

Armee, Verwaltung, Wirtschaft und Partei.

Dies Muster übernahm später Hilberg . 1950 promovierte er mit mehreren hundert Seiten seines späteren Standardwerks. Neumann verschaffte ihm eine Anstellung als Auswerter von deutschen Quellen, die 1945 von der US-Army beschlagnahmt worden waren. Es ging um einen gigantischen bürokratischen Prozess, die Strukturen bei der Durchführung des Holocaust. Heute erscheint es uns unwahrscheinlich, dass ein Einzelner die riesigen Informationsmengen bewältigen konnte. Aber Raul Hilberg machte sich damit nicht beliebt. Er fand auch in den USA keinen Verlag. Da kam ihm 1961 der Eichmann-Prozess in Israel zur Hilfe. Am 31. Juli 1961 erschien sein Riesenwerk. Und blieb zunächst weithin unbekannt. Der Name „Holocaust“ wurde erst 1979 durch Marvin Chomskys Seifenoper durchgesetzt, die auch in Deutschland einen großen Einfluss auf die Rezeption hatte.

Hilberg wollte die Täter beim Namen nennen. Das war damals in Deutschland noch nicht möglich. Er belegte, dass das Geschehen nicht vorherbestimmt war, sondern auf der politischen Überzeugung von Hitler und den Nazis beruhte. Und Raul Hilberg zeigte, dass die ganze deutsche Gesellschaft am Nazi-Terror und am Holocaust beteiligt war: Kirchen, Reichsbahn, Reichspost, Universitäten, Vereine, Banken, Versicherungen, Kommunalverwaltungen etc. Die Zustimmung in der deutschen Gesellschaft für die Nazis war sehr groß. Ebenso wie der ökonomische Nutzen, den Einzelne, Firmen, staatliche Institutionen aus dem Antisemitismus und dem Holocaust zogen. Kaum ein Beamter hat sich widersetzt.

Die weitgehende Passivität der jüdischen Opfer erklärte Hilberg als Folge einer 2000-jährigen Geschichte der Anpassung und Assimilation. Als Hannah Arendt das in in ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“ übernahm, kam es zum Skandal, einer heftigen innerjüdischen Kontroverse. Erst 2012 ist eine hebräische Übersetzung von Hilbergs Buch erschienen. Das zeigt die Schwierigkeiten, die Israel hat. In Deutschland stieß Hilberg auf stärkste Widerstände. Etwa beim Institut für Zeitgeschichte in München. Allein das Namensregister des Hilberg-Buchs machte die Publikation in Deutschland lange unmöglich. Ein Verdikt über diese Gesellschaft. Erst als die zahlreichen Nazis nach und nach starben, kam es zu einer Öffnung für den Holocaust in der deutschen Gesellschaft.

Raul Hilberg charakterisierte sein Buch einmal mit den Worten: „Das Buch ist voluminös und komplex. Es ist dies notgedrungen, weil die Ereignisse, die es schildert, gewaltig und verwickelt waren (…). Es verkürzt nicht, um Maßnahmen uneingeschränkt schildern zu können, die uneingeschränkt ergriffen wurden.“

Hilberg hielt den Holocaust für singulär und für vergleichbar; denn wie jedes historische Ereignis hatte es eine lange Vorgeschichte. Es ist die Geschichte des Antisemitismus.

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt er, Geschichte „lässt sich nicht ungeschehen machen, erst recht nicht die Geschichte dieses Ereignisses, das im Zentrum einer Erschütterung stand, die die Welt verändert hat. Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt sich selber nicht zu begreifen.“

(René Schlott, Die Zeit 29.7.21)