641: Friedrich Sieburg – der gebildete Melancholiker

Mit Tilman Krauses 1990 bei der FU Berlin eingereichten Dissertation, die 1993 unter dem Titel

„Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewusstsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert.“ Berlin (Akademie), 339 Seiten,

erschienen ist, habe ich stets gerne in meinen Lehrveranstaltungen gearbeitet, in denen es um die deutsche Publizistik nach 1945 ging. Sieburg war in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter Studenten weithin unbekannt. Nun hat Tilman Krause zwei neue Bücher über Friedrich Sieburg rezensiert (Literarische Welt 19.7.14). Anlass des zweiten Bandes von Klaus Deinet ist der 50. Todestag Sieburgs am 19. Juli 2014. Krause rezensiert weniger, als selbst nochmals einen Rückblick auf den Literaturchef der FAZ Anfang der sechziger Jahre zu geben.

Sieburg, der aus dem Umkreis von Stefan George stammte, hat von 1926 bis zum Krieg für die „Frankfurter Zeitung“ aus Frankreich berichtet. Dort saßen auch ihm gut bekannte Kollegen wie Joseph Roth und Kurt Tucholsky. Für diese Zeit steht Sieburgs Klassiker

„Gott in Frankreich“ (1929).

Der Opportunist und Lebemann Sieburg arrangierte sich mit den Nazis, machte in den vierziger Jahren sogar für sie in Paris Kulturpropaganda. Tilman Krauses Buch enthält ein Kapitel mit dem etwas umständlichen Titel

„Sieburgs Hedonismus im Vergleich zum introvertierten Heroismus Gottfried Benns“.

Aus Carl Zuckmayers „Geheimreport“ wissen wir, dass Friedrich Sieburg den Nazis seine Seele verkaufte und daran beinahe zugrundeging. Aber er hatte Glück mit der Restauration der Adenauer-Jahre (ca. 1949-1963).

Denn in diese Zeit fällt Sieburgs wichtigste Zeit, u.a. als Literaturchef der FAZ. Er lieferte den Konservativen ihre Stichwörter mit „Die Lust am Untergang“, die „deutschen Dunkelheiten“ und „machtgeschützte Innerlichkeit“. Sieburg kritisierte den „deutschen Sonderweg“ und spielte seine überlegene Bildung gegen andere aus, die nicht wie er kein wirkliches Interesse an Aufklärung über die schlimmen deutschen Jahre 1933-1945 hatten. Sieburg bezeichnete sich selbst als „schweren Melancholiker“. Offen stellte er sich gegen die Gruppe 47. Das war seinerzeit selten.

Einige der bewegten jungen Intellektuellen der Bundesrepublik fielen immer mal wieder mit „ungebildetem Indianergeheul“ über ihn her. Wohl nicht ganz ohne Grund. Sieburg begegnete dem mit „gönnerhaftem Darüberstehen“, was nicht gut ankam. Über Hans Magnus Enzensberger schrieb Sieburg: „Ist dieser scharfe Junge , immer zu einem Späßchen aufgelegt und mit der glücklichen Gabe ausgestattet, jäh auf moralischen Zorn umzuschalten, ist dieser Hans Dampf etwa eine Null? Keineswegs, wir müssten ihn und seinesgleichen erfinden, wenn es sie nicht so unverkennbar gäbe. Denn sie halten den Betrieb aufrecht.“ Es war die Zeit, als Enzensberger noch für Fidel Castro schwärmte.

1960 griff Franz Schonauer Sieburg frontal als „alten Nazi“ an, was er in einem Essay 1980 wortreich bedauerte und bereute. Aber Sieburg hatte sich am Anfang der sechziger Jahre seinen Ruf als Reaktionär sorgfältig erarbeitet. Zu einem Schuldbekenntniks konnte er sich nicht durchringen. Tilman Krause macht eindeutig klar, dass es nicht weltanschauliche oder politische Überzeugungen waren, die Sieburg zum Nazi werden ließen, sondern private und karrieretechnische Gründe.

In der Literatur förderte der Literaturchef der FAZ die, wie er sie nannte, „Gebrauchsliteratur“ der Alfred Andersch, Hans Bender und Siegfried Lenz. Aber er begrüßte 1962 auch jubelnd Alexander Kluges Debütband, die Erzählungen „Lebensläufe“. Wie lange ist das nun schon her!

Auch wenn wir nicht daran vorbeikommen, Friedrich Sieburg politisch recht eindeutig zu identifizieren, so finden wir bei ihm immer wieder Sentenzen, über die es sich lohnt, nachzudenken: „Wir sind das aufgeregteste und lauteste Volk der Welt, aber uns plagt das Verlangen statuarisch und kühl aufzutreten. So taumeln wir hin und her, einmal sind wir das radikalste Volk der Erde, das alle äußeren Formen siegreich überwunden hat und keine Tradition braucht, und dann wieder, oft im gleichen Augenblick, leiden wir bitterlich, fast kindlich an unserer gesellschaftlichen Unzulänglichkeit und an unserer konstitutionellen Unfähigkeit, Maß zu halten, nicht aufzufallen und uns in der menschlichen Familie mit Sicherheit zu betragen.“