Götz Aly erklärt uns den Antisemitismus: nicht ganz neu, aber schlüssig.

In einem Interview mit Ralph Bollmann (FAS 7.8.2011) erklärt uns Götz Aly den Antisemitismus. Darin setzt er sich, wie nicht anders zu erwarten, von simplen kapitalistischen Erklärungsversuchen ab, aber auch von beschönigenden, leicht konsumierbaren Varianten wie der, die Ursachen in einem allgemeinen Bösen zu suchen: Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. (S. Fischer) Frankfurt 2011.

„Nichts an der Vorgeschichte führt zwingend nach Auschwitz.“ Aly macht hauptsächlich das unterschiedliche Tempo des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit für den Antisemitismus verantwortlich. In den Schriften des exemplarischen Antisemiten Adolf Stoecker spielten laut Aly um 1880 weder Rasse noch Religion eine große Rolle, sondern Fragen der sozialen Mobilität. Der Staatswissenschaftler Werner Sombart habe gesagt: „Wenn wir die viel gescheiteren und betriebsameren Juden nicht zu Professoren machen wollen, müssen wir aus Gründen der Protektion einen der dümmeren Nichtjuden berufen.“

Ein wichtiger Grund für den Antisemitismus sei nach der Reichsgründung von 1871 die sehr schnelle Durchsetzung des Hochkapitalismus gewesen, die sich doppelt so schnell vollzogen habe wie in England. Allerdings sei in Deutschland. vor allem in Preußen, seit der Einführung der bürgerlichen Freiheiten 1807 die Freiheit selbst nie besonders hochgeschätzt worden. „Die Vorstellung, dass Freiheit etwas Schönes ist, dass man im Leben Risiken eingehen muss und sein Glück suchen muss – das war den Deutschen aufgrund ihrer geduckten Situation fremd.“

An Bismarck sei das politisch Fatale, dass er nach der Wirtschaftskrise von 1873 den deutschen Liberalismus zerschlagen habe. Dies Werk sei von innen heraus von Friedrich Naumann mit einem imperialistischen und zugleich volkskollektivistischen Programm vollendet worden. Deswegen beruhe die Benennung der FDP-Stiftung nach diesem Mann auf einem Mangel an historischer Einsicht.

Wenn im Zuge des sozialen Aufstiegs Nichtjuden und Juden etwa in der Universität aufeinander gestoßen seien, so habe es häufig sozialen „Nahneid“ gegeben. Diesen Begriff führt Aly eigens ein. „Es ist falsch, die Ursachen des deutschen Antisemitismus nur im sogenannten Bösen zu suchen.“

Es gäbe Anzeichen dafür, dass die Islamfeindschaft der Antisemitismus von heute sei. Das Bildungsproblem stelle sich hier umgekehrt. Die türkischen Zuwanderer ähnelten den deutschen Binnenemigranten des 19. Jahrhunderts. „Vielleicht sind die Aversionen deshalb so stark, weil wir uns in ihnen selbst erkennen.“

Historisch ergiebig sei der Vergleich des Judenmords mit anderen Völkermorden. „Die Armenier im Osmanischen Reich waren ebenfalls die mobilen Modernisierungsgewinner. In Ruanda fielen die rückständigen Hutu über die wirtschaftlich erfolgreichen Tutsi her.“

Aly hält durchaus am Begriff des Fortschritts fest. „Das Vorhaben der preußischen Bildungspolitik, in jeder Kreisstadt ein Gymnasium zu errichten, war ein fortschrittliches Ziel.“ Aly behauptet, vor der Abfassung seines neuen Buchs keine klare These gehabt zu haben. Und er begründet seine Methode für Fachkollegen und Publikum gleichermaßen schlüssig: „Dass ich im Ergebnis wieder materielle Tatsachen wie Bildungsunterschiede, soziale Beweglichkeit, unternehmerische Lust ins Zentrum der Analyse rücke – das verdankt sich dem intensiven Studium der Quellen.“ 

Ein Studium, das sich offenbar sehr gelohnt hat. Und ein verdienstvolles Interview!