Falls das deutschsprachige Feuilleton gut sein sollte, dann ist das nach 1945 vor allem einem Mann zu verdanken, der gerade 80 Jahre alt geworden ist: Fritz J. Raddatz. Für alle Leserinnen und Leser des Feuilletons seit den 60er Jahren hat er Orientierungshilfe geleistet. Insofern wirkte er über sein unmittelbares Betätigungsfeld hinaus. Und seine wichtigsten Felder waren der Rowohlt Verlag und „Die Zeit“. Raddatz konnte wirken, weil er polarisiert hat. Das heißt, dass auch seine zahlreichen Gegner in die Kontroversen einbezogen waren.
Raddatz hatte an der Humboldtuniversität studiert und promoviert und war dann beim sehr anerkannten Verlag „Volk und Welt“. 1958 kam er in die Bundesrepublik, weil nach seiner Erkenntnis die DDR keinen tatsächlichen Sozialismus verbürgte. Im deutschen Verlagswesen machte er eine atemberaubende Karriere. Über den Kindler-Verlag kam er zu Rowohlt, wo er stellvertretender Verlagsleiter wurde. Seine Zusammenarbeit mit Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt war eng und freundschaftlich. Hier wurden Autoren wie Henry Miller, Susan Sontag und John Updike dem deutschen Publikum bekannt gemacht. Vor allem aber ist es das Verdienst von Fritz J. Raddatz, Kurt Tucholsky wieder entdeckt und propagiert zu haben. Er ist der Herausgeber einer großen Kurt Tucholsky-Ausgabe. Dadurch hat er eine Tradition im deutschen Journalismus gepflegt, ohne die vieles sehr viel provinzieller gewesen wäre.
Raddatz war stets dem Groß- und Bildungsbürgertum verbunden und verpflichtet und pflegte mit der sozialdemokratischen Kulturpolitik eine tiefe gegenseitige Abneigung. Dies wurde vor allem klar in seiner geradezu berüchtigten Zeit als Feuilletonchef der „Zeit“ (1977-1985). Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass in jener Zeit fast alle großen Schriftsteller und Journalisten bei Raddatz publiziert wurden. Er war ein Feuilletonchef, wie es ihn vorher noch nicht gegeben hatte. Auch Literaturwissenschaftler und Professor. Und Fritz J. Raddatz eckte immer wieder an. Vorzugsweise bei eher biederen Journalisten und Politikern wie Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt, auf die er auch in der „Zeit“ traf. Raddatz focht, wie Willi Winkler es treffend schreibt, „gegen die reaktionären Restbestände in der Bundesrepublik“. So griff er 1979 die deutsche Literatur nach 1945 heftig an mit dem Argument, sie habe sich nicht wirklich von der Literatur davor emanzipiert („Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt“). Die konzertierte Gegenwehr ließ nicht auf sich warten.
Raddatz ging dann auch unter die Erzähler und Romanciers. Und in ihm haben wir den klassischen Fall vor uns, dass jemand, der wie Raddatz die Journalistenkollegen und Kritiker überragt, als schöpferischer Künstler weniger erfolgreich ist. Raddatz blieb ein „Unruhestifter“. Seine Bücher über Heine, Rilke und Benn sind kreativ und brillant formuliert, aber möglicherweise nicht immer ausrecherchiert. Raddatz hat sich die häufig nicht geliebte Verbindung von äußerster kritischer Schärfe und Unterhaltsamkeit erlaubt. Wegen einer banalen Affäre wurde er von „Zeit“ gefeuert. Danach erst hat er mit seinen „Erinnerungen“ 2003 und vor allem mit seinen Tagebüchern 1982-2001 (2010) seine wichtigsten Werke vorgelegt. Sie sind ein Musterbeispiel des gebildeten Klatschs (auf das ich hier noch gelegentlich eingehen möchte). Und ausgerechnet Frank Schirrmacher hat die Tagebücher „den Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“ genannt. Das ist nicht übertrieben.
In einem Interview mit Tilman Krause in der „Literarischen Welt“ (3.9.2011) hat sich Fritz J. Raddatz als „menschensüchtig“ bezeichnet. Er ist gewiss kein simpler Menschenfreund oder Gutmensch, aber einer, der auch persönlich viel erlebt hat. Heute spricht Raddatz auch offen über die Fehler der Gruppe 47, die er mitgeprägt hat. So über das Verdikt über Paul Celan. Unter den Gegenwartsautoren schätzt er besonders Uwe Tellkamp. Daran ist zu erkennen, dass Raddatz neben aller stilistischen Stärke bei einem Schriftsteller immer auch darauf bestanden hat, dass dieser von seiner Sache inhaltlich etwas verstehen muss.
Was uns in erster Linie von Fritz J. Raddatz überzeugt und mit ihm verbindet, ist seine Fundierung bei Kurt Tucholsky und sein Festhalten an ihm. So sagt er 2011: „Ich wäre nicht der, der ich bin, wenn ich nicht Kurt Tucholsky gehabt hätte. das war mein Lehrmeister. Bei ihm habe ich Unerbittlichkeit, Schärfe, eine spezifische Form hellsichtiger Intellektualität und ein unvergleichliches politisches Frühwarnsystem bewundern gelernt. Von meinem ersten Semester an hat er mich bis zur Stunde begleitet.“