Günter Grass‘ Thesen zum Zweiten Weltkrieg weiter in der Diskussion

Der ehemalige Leiter (1995-2006) des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, Peter Jahn, nimmt sich in der SZ (1.9.2011) Günter Grass‘ Thesen zum Zweiten Weltkrieg vor, die dieser kürzlich in einem Interview mit Tom Segev in der israelischen Zeitung „Haaretz“ vertreten hatte. Grass‘ Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ ist gerade in Israel erschienen.

Grass bezieht sich auch auf den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ nach einem Torpedoangriff mit 9.000 Toten in der Ostsee. Er hält diesen Angriff nicht für völkerrechtswidrig. Und er fährt fort: „Aber der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. Es gab 14 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, das halbe Land ging direkt von der Nazityrannei in die kommunistische Tyrannei. Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern.“

Für Peter Jahn ist Grass damit zum deutschen Bild der fünfziger Jahre zurückgekehrt. Stimmt das? Bei Jahn heißt es weiter: „Die Fakten: Mehr als drei Millionen deutsche Soldaten gerieten im Krieg und vor allem bei Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft. Sie wurden mehrheitlich erst  zwischen 1947 und 1949 entlassen, da die sowjetische Regierung ihre Arbeitskraft als Reparationsleistung für die immensen Kriegszerstörungen ansah. Nach unterschiedlichen Zählungen haben 700 000 bis 1,1 Millionen der Gefangenen nicht überlebt, wurden vor allem Opfer der Mangelernährung. Die zahlreichen Erinnerungen heimgekehrter Kriegsgefangener malen ein Bild vom alles beherrschenden Hunger der ‚Plennis‘, das uns schmerzhaft berührt, wenn wir denn zu Mitgefühl fähig sind. Auffällig ist allerdings in diesen Berichten die immer wiederkehrende Aussage, dass es der Bevölkerung ringsum auch nicht besser gegangen sei. … Indem aus einer Million an Hungerfolgen Gestorbenen sechs Millionen von den Russen ermordete Deutsche phantasiert werden, stehen bei Grass der Völkermord an den Juden und das deutsche Leiden auf einer Stufe.“

Jahn wirft Grass vor, an entlastende Schreck- und Feindbilder anzuknüpfen. Insbesondere habe Grass etwa die zum Hungertod bestimmte Bevölkerung Leningrads (mindestens 800 000 starben) und die sowjetischen Kriegsgefangenen vergessen. „Von 5,7 Millionen Gefangenen starben drei Millionen“ als „überflüssige Esser“ oder „slawische Untermenschen“. „Ohne diese Erfahrungen der sowjetischen Soldaten, die sie eben nicht nur in Propagandaschriften, sondern als Augenzeugen wahrnahmen, sind die Schreckenserfahrungen der deutschen Bevölkerung im Jahr 1945 .. nicht zu begreifen.“

Auch wenn wir nicht aufrechnen dürfen, hält uns Grass weiter politisch in Atem. Am 23. September kommt er mit dem Thema „Mein Jahrhundert – Lesung und Gespräch“ um 20 Uhr nach Göttingen in die Aula am Wilhelmsplatz (eine Veranstaltung des ‚Literarischen Zentrums Göttingen‘). Sein Gesprächspartner ist der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering.

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