240: Oscar Pistorius‘ Karbonstelzen sind mechanisches Doping.

Bei den Olympischen Spielen in London ist der Sportwelt wahrscheinlich ein großer Konflikt erspart geblieben. Dadurch, dass Oscar Pistorius nicht in den Endlauf gekommen ist, geschweige eine Medaille gewonnen hat. Denn dann wäre der Sport nicht mehr zur Ruhe gekommen (Harro Albrecht/Urs Willmann „Die Zeit“, 9.8.12). Es hätte sich die Frage aufgedrängt, ob die Kohlefaser-Schenkel einen verbotenen Wettbewerbsvorteil bedeuten. Dass es sich um künstliche Hilfsmittel handelt, kann ja keine Frage sein. Dürfen Hybridsportler um olympische Medaillen kämpfen? Dass es nicht zu einem solchen Konflikt gekommen ist, kann auch mit daran gelegen haben, dass Oscar Pistorius als netter Behinderter in Fernseh-Werbefilmen mit Weltklasse-Athleten aufgetreten ist.

Doping in Form der Einnahme von leistungsteigernden Mitteln (Anabolika, Hormone, Blut- oder Gendoping etc.) ist verboten. Was aber ist mit Maßnahmen, die ähnliche Leistungssteigerungen nach sich ziehen wie Höhentrainingslager und Klimakammern? Der Spitzensport steckt in einem Dilemma. Die Frankfurter Sportphilosophin Claudia Pawlenka macht darauf aufmerksam, dass die Grenze zwischen Doping und Nicht-Doping willkürlich gezogen ist. Sie basiert im Wesentlichen auf einer Negativliste mit verbotenen Substanzen. Im Grunde erforderte eine Klärung eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Begriffen „Natur“ und „Natürlichkeit“. Die will aber keiner führen, weil die Diskussion hier höchst komplex würde. Wo wäre etwa der finnische Skilangläufer und mehrfache Weltmeister und Olympiasieger Eero Mäntyranta einzuordnen, der in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf Grund eines Gendefekts so erfolgreich war.

Kritik fanden auch die Trainingsmethoden des britischen Olympiasiegers über 5.000 m und 10.000 m Mo Farrah und des US-Amerikaners Galen Rupp. Sie hatten ihre Leistungsfähigkeit im sogenannten Oregon-Projekt optimieren lassen. Mit Unterwasser- und Anti-Schwerkraft- Laufbändern, Höhenkammern, Diagnostik per Computer. Für Claudia Pawlenka optimieren solche Methoden den menschlichen Körper noch „innerhalb des vorgefundenen Naturrahmens“. Dopingtechniken dagegen zielten darauf ab, „die jeweils vorgefundenen , genetisch bedingten Dispositionen zu sprengen“. Die Frage lautet also: „Welche Natur ist der Maßstab, nach dem sich die Aussage über einen unfairen Vor- beziehungsweise Nachteil bemisst?“

Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Clemens Prokop, hält die Benutzung von künstlichen Hilfsmitteln wie denen von Oscar Pistorius für „ausgeschlossen“. Leistung müsse sich aus Talent und Training ergeben. Nur dann sei sie „objektiv vergleichbar“. Natürliche Unterschiede und Wettbewerbsvorteile akzeptiert der Sport, aber keine künstlichen. Für Helmut Digel, Council-Mitglied im Leichtathletik-Weltverband, gibt es bei der Benutzung von künstlichen Schenkeln keinen wirklichen Wettbewerb mehr. Die Idee des Fair Play sei entstanden, als die Briten anfingen auf die Läufer zu wetten. „Man musste sich darauf verlassen können, dass die Athleten nichts einbringen als ihr Talent.“ Wenn dank neuer Federtechnik behinderte Läufer bald die 400 m in 42 Sekunden laufen könnten, würde es bald heißen, dass der Wettkampf unfair sei.

Das führt uns auch zu dem Problem mit den besseren Booten und den leichteren Rädern, die ja auch einen Wettbewerbsvorteil mit sich bringen. Helmut Digel: „Letztendlich siegen hier in vielen Disziplinen die Ingenieure.“ Der fünffache Ruder-Weltmeister Peter-Michael Kolbe sieht das anders. „Wenn sich alle aufs gleiche Rad setzen, geht etwas verloren.“ Das Tüfteln und Ausprobieren von neuen Materialien nämlich. Aber auch Kolbe geht die Künstlichkeit im Fall Oscar Pistorius zu weit.

Albrecht und Willmann schreiben: „Mit der Ächtung des enhancement geht die Sportwelt einen einsamen Weg. Außerhalb ihrer Zone verschönert sich der Mensch mit Implantaten, er dopt, kuriert sich genetisch, optimiert seine Organe, seine Intelligenz. Da ist nicht immer plausibel, warum sich allein Sportler sklavisch an die reine Lehre der Fairness halten sollen.“ Für Helmut Digel wird von den Sportlern etwas verlangt, „was außerhalb des Sports von niemandem verlangt wird“.

Und daran, so finde ich, sollte der Sport unbedingt festhalten. Der Fall von Oscar Pistorius zeigt deutlich, dass hier eine Grenze überschritten ist. Denn was wäre wohl, wenn ein Hybridwesen dank künstlicher Ersatzteile schneller sein würde als Usain Bolt?