Viele von uns nehmen an, dass es mit der Dominanz der USA in der Weltpolitik bald vorbei ist. Und einige davon gewiss auch mit einer klammheimlichen Freude, waren sie doch seit langer Zeit Gegner der Vereinigten Staaten. Aus prinzipieller Ablehnung wie auf der politischen Linken oder aus anderen Gründen.
Und tatsächlich: die Arbeitslosigkeit in den USA bleibt bei neun Prozent stehen, die Armut steigt, die Staatsschulden explodieren. Tea-Party-Fundamentalisten legen teilweise das politische System lahm, eine neue Rezession droht. Barack Obama enttäuscht mit seiner Amtsführung weithin. Wenn auf Seiten der Republikaner nicht so viele bizarre Details über ihre Präsidentschaftskandidaten bekannt geworden wären, könnten wir schon mit einem neuen republikanischen Präsidenten rechnen (Stephan Bierling in der SZ vom 7.10.2011).
Abu Ghraib, Guantanamo und die Bankenkrise lassen die USA als Vorbild für Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft untauglich erscheinen. Sie sind schwer angeschlagen. Aber noch nicht k.o.
Denn die Geburtenrate ist in den USA höher als in den anderen Industriestaaten. Die US-amerikanischen Universitäten führen weltweit. Sie profitieren von dem ganz und gar freiwilligen Zustrom der besten Wissenschaftler aus aller Welt. Die klügsten Köpfe zieht es in die USA. Zudem sind nahezu unerschöpfliche Kohle- und Schiefergasvorkommen entdeckt worden, die die USA unabhängiger von den Weltenergiemärkten machen. Dazu kommen die Ölsandreserven Kanadas. Von daher bestehen also gute Voraussetzungen um den Kampf auf den Weltmärkten und in der Weltpolitik zu bestehen.
Zwar dürfte China die USA in den nächsten zwanzig Jahren als größte Wirtschaftsnation der Welt überholen. Bisher erwirtschaftet jeder Chinese nur ein Sechstel dessen, was ein Amerikaner an Werten schafft. China befindet sich noch auf dem Niveau eines Schwellenlands. Es wird noch lange dauern, bis es das Pro-Kopf-Einkommens-Niveau Portugals erreicht. Und für eine Führungsrolle Chinas bedarf es nicht nur des Wirtschaftswachstums. Es kommt auch darauf an, dass China politisch akzeptiert wird. Gerade von seinen Nachbarn. Und da hat es als kommunistische Diktatur mit Marktwirtschaft keine guten Chancen. Japan, Südkorea, Australien und Taiwan orientieren sich nach wie vor eher an den USA.
Respektiert werden die USA, weil sie nicht nur über den mit Abstand schlagkräftigsten Militärapparat der Welt verfügen, sondern weil sie bereit sind, ihn notfalls zum Schutz der alten und neuen Verbündeten in der Region Ostasien auch einzusetzen. Die Philippinen, Singapur, Indonesien und Vietnam senden neuerdings Kooperationssignale an Washington. Dass vietnamesische Offiziere 36 Jahre nach Ende des Vietnamkriegs US-Seemanöver vor ihrer Küste an Bord eines US-Zerstörers beobachtet haben, war ein Signal an Peking, seine Expansionspolitik in Südostasien einzustellen. Zu Zeiten des real existierenden Sozialismus war die Sowjetunion der wichtigste Partner Nordvietnams, nicht China. Nach den Truppenabzügen in Irak und Afghanistan haben die USA mehr Potential, sich in Ostasien zu engagieren.
Supermacht wird nur, wer seine unmittelbare Nachbarschaft kontrollieren kann. Das war bei Großbritannien im 19. Jahrhundert der Fall, wo sich die anderen europäischen Mächte auf dem Kontinent gegenseitig in Schach hielten. Die Sowjetunion, im 20. Jahrhundert neben den USA die entscheidende Supermacht, hatte sich mit einem Ring von Satelliten umgeben. Die daraus hervorgegangenen Staaten haben gegenwärtig kein besonders gutes Verhältnis zu Russland.
Zu alldem kommt noch, dass die geostrategische Lage der USA einmalig geblieben ist. Sie sind flankiert von Ozeanen und haben im Norden und Süden Nachbarn, von denen keine Gefahr ausgeht.
Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte war von Anfang an falsch. Es zeichnet sich ab, dass sich die Zahl der Spieler in der Weltpolitik erhöht. Mächte wie China, Indien oder Brasilien werden selbstbewusster. Keine Macht wird dominieren. Alle verfolgen ihre Eigeninteressen. Wenn wir Europäer unsere Chancen wahrnehmen und die Fehler der anderen vermeiden wollen, bleibt uns nur eine generelle Startegie: die entschlossene, schnelle und nachhaltige Stärkung Europas. Das verlangt die weitere Zurückdrängung nationaler Souveränität. Im Zweifelsfall muss sogar die Verfassung dafür geändert werden.