243: „Wer hat den längsten Schwanz?“ (im Journalismus)

Harald Staun schaltet sich in letzter Zeit häufiger in Grundsatz-Debatten über den Journalismus ein (zuletzt FAS 26.8.12). Das könnte zur Klärung des Systems Journalismus beitragen, das für das Funktionieren der Demokratie bestimmt mit entscheidend ist. Dieses Mal wird Staun polemisch. Sein Beitrag trägt den Titel „Mut zur Lüge. Dabei sein ist auch nicht alles: Warum der Journalismus an seiner Schwäche für Fakten leidet.“. Darin beschäftigt Staun sich mit einem Streit im US-Journalismus zwischen einem „Essayisten“ und einem „Fakten-Checker“. Wir wissen, wie wichtig im anglo-amerikanischen Journalismus die Dokumentationsabteilungen sind. Aus diesem Verständnis von Journalismus resultiert ja der bekannte Satz „Comments are free, but facts are sacred.“, der nach 1945 auch für den westdeutschen Journalismus leitend wurde. Staun schlägt sich aber auf die andere Seite.

Als der „Essayist“ über das Verfassen einer Story mitteilt, er sei nach Las Vegas gezogen, um dort seine Mutter zu unterstützen, fragt der Faktenchecker nach deren Telefonnummer. Daran sind die Unterschiede relativ gut zu erkennen. Staun glaubt nicht, dass es eine klare Trennungslinie zwischen „Fiction“ und „Nonfiction“ gibt. Und er findet im aktuellen deutschen Journalismus wichtige Streitfälle. So hat am 10. Juli Heribert Prantl in der SZ von einem Essen beim Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle berichtet, an dem er gar nicht teilgenommen hatte. Das findet Harald Staun nicht weiter schlimm. Aufgedeckt hatte die Ungenauigkeit Reinhard Müller in der FAS: „Andreas Voßkuhle mag kein Dressing. Aber er muss damit leben, dass ihm das von vermeintlichen Zeugen seiner Kochkunst angedichtet wird.“

Ganz anders als Harald Staun beurteilt Silke Burmester den Vorgang in der „taz“ (6.8.12). Ihr Beitrag trägt den drastischen Titel „Wer hat den längsten Schwanz?“. Darin führt sie das Fehlverhalten Prantls auf die im deutschen Journalismus dominierende männliche Eitelkeit zurück. „Das Journalisten-Glied wächst mit jedem Politiker, mit dem man sich zum Mittagessen trifft.“ Burmester erinnert an die „gepimpten“ Storys von Tom Kummer. Und sie macht darauf aufmerksam, dass René Pfister seinen Henri-Nannen-Preis zurückgeben musste, als herauskam, dass sein Bericht aus Horst Seehofers Modellbahnkeller nicht auf Augenzeugenschaft beruhte.

Burmester formuliert ebenfalls drastisch, wo sie schreibt: „Ich kann nicht behaupten, dass Frauen nicht auch zu diesen Mitteln greifen. Vielleicht aber sind wir nicht so anfällig dafür, weil uns der Wettbewerbsgedanke nicht so im Blut steckt wie den Männern. Weil wir zwar gut sein wollen und vielleicht auch die Beste, aber dafür nicht unseren Penis auf den Tisch legen müssen.“ Dieser Theorie schließe ich mich nicht an.

Harald Staun jedenfalls glaubt nicht an die Möglichkeit objektiver Wirklichkeitsbeschreibung. Und dann geht er wieder sehr weit: „Was nämlich selbst die beste Faktencheck-Abteilung nicht kontrollieren kann, das sind die Manipulationen, die in jeden journalistischen Text schon als Prämisse eingebaut sind: die Enge jeder Perspektive, die Subjektivität jeder Begegnung, das Rollenspiel aller Beteiligten, die Skripte der Statements und die Selbstverständlichkeiten der Genres. Es kann in einer Welt voller Lügen und Inszenierungen nicht nur darum gehen, die Wahrheit zu erzählen.“

Ich habe vorne in diesem Blog schon angedeutet, welche Illusionen mit dem Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ verbunden sind, den eine deutsche Zeitschrift einmal zu ihrem Wahlspruch erhoben hatte. Zurückzuführen ist ein Teil der Missverständnisse auf den tschechischen kommunistischen Agitator Egon Erwin Kisch, auf den sich viele im Journalismus mit dem Satz beziehen: „Schreib das auf, Kisch!“. Kisch war aber gerade kein Dokumentarist, sondern feilte sehr lange und in künstlerischer Absicht an seinen Texten.

In den Leitsätzen dieses Blogs finden wir Albert Einsteins Sentenz: „Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.“ Dabei können wir „Theorie“ mit „unsere Vorurteile“ gleichsetzen. Ernst von Glasersfeld fügt hinzu: „Dann wurde mir klar, dass ich, wenn ich Englisch sprach, in einer anderen Welt lebte, als wenn ich Deutsch sprach.“ Und Heinz von Foerster meint: „Die Anrufung der Objektivität ist gleichbedeutend mit der Abschaffung der Verantwortlichkeit: darin liegt ihre Popularität begründet.“ Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela haben unverrückbar festgestellt, dass alles Gesagte, von jemand gesagt ist. Siegfried J. Schmidt weiß, dass Wirklichkeitskonstruktion autobiografisch ist und bei jedem Menschen verschieden ausfällt.

Darum ist das Verhalten Heribert Prantls eine lässliche Sünde. Und Harald Staun sieht den Journalismus ziemlich richtig.