4088: Peter Demetz 100

Der in Prag geborene Peter Demetz ist emeritierter Germanistik-Professor in Yale. Er lebt in den USA und wird 100 Jahre alt. Er hat sehr viele Rezensionen und Kritiken für die „Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ geschrieben. Seine Mutter stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Böhmen, sie starb in Theresienstadt, väterlicherweits stammte er von ladinischen Südtirolern ab. Die Nazis hatten ihn zur Zwangsarbeit verpflichtet. Demetz promovierte an der Prager Karls-Universität. Als die Sowjets die Tschechoslowakei übernahmen, verließ er das Land. Ingeborg Harms hat Peter Demetz für die „Zeit“ (20.10.22) interviewt.

Zeit: Warum haben Sie Prag nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen?

Demetz: Ich war noch Student an der Prager Universität, als ich mein erstes Buch „Kafka und Prag“ gemeinsam mit drei Leuten herausgegeben habe. … Kafka war bei den Kommunisten verrufen. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als mit meiner damaligen Freundin Hanna das Weite zu suchen und nach Deutschland zu gehen.

Zeit: Wie ging es dort weiter?

Demetz: Wir landeten im einzigen deutschen Kinderlager, weil ich deutsch und englisch sprach: Ich wurde Stellvertreter des Erziehungsdirektors in Bad Aibling in Oberbayern. Durch Vermittlung eines Prager Intellektuellen bin ich nach zwei Jahren zum „Radio Free Europe“ nach München gekommen und war vier Jahre lang Kulturredakteur. Dort habe ich mich sehr wohlgefühlt.

Zeit: Sie haben bei René Wellek promoviert, der von der Prager Universität kam. Sind Sie ein Schüler seiner werkimmanenten Interpretation?

Demetz: Ja, ich bin ihm immer nahegestanden, vielleicht habe ich nicht in allen Büchern dasselbe „close reading“ praktiziert.

Zeit: Stehen Ihnen einige deutsche Autoren näher als andere?

Demetz: Ganz sicher. Einer der ersten, die mir auffielen, war Heimito von Doderer. Seine „Strudlhofstiege“ habe ich Österreich irgendwo unterrichtet. Ich kann mich an sommerliche Tage erinnern, wo ich nichts anderes gelesen habe, um mich vorzubereiten. Ich weiß nur nicht, wozu. Alfred Andersch war mir auch ans Herz gerwachsen, aber durch seine Abenteuer mit den Behörden war er mir zugleich etwas fern. Böll hatte den Hang ins Transzendente und war mir sehr fremd. Nelly Sachs kannte ich von früher, aber sie hat keine Spuren hinterlassen. Max Frisch bin ich oft begegnet und habe ihn als Dramtiker sehr geschätzt. Es mag sein, dass mein von den Russen verbotenes Stück Max Frisch nachgeschrieben war.

Zeit: Sehen Sie die hiesige Gegenwartsliteratur optimistischer?

Demetz: Eigentlich nicht. …