4079: Andrea Wulf erklärt uns die Romantik.

Die für ihre Publikationen schon vielfach ausgezeichnete Kulturwissenschaftlerin Andrea Wulf, geb. 1967, hat ein neues Buch vorgelegt, über das sie in einem Interview mit Fritz Habekuß (Zeit, 13.10.22) spricht:

Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich. München (Bertelsmann) 2022.

Darin schildert sie die vielen Köpfe und Kapazitäten, die sich in den 1790er Jahren in Jena versammelt hatten. Um den Superstar Friedrich Schiller. Das waren Johann Wolfgang Goethe, Johann Gottlieb Fichte, August-Wilhelm und Friedrich Schlegel, Friedrich Schelling, Caroline Schlegel, Wilhelm und Alexander Humboldt, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Sie haben dort die Romantik als internationale Bewegung eingeläutet, auch wenn am Ende nicht alle bei der Stange blieben.

„Sie wandten sich vor allem gegen das rein empirische Denken der Aufklärung und glaubten, dass deren rationaler Ansatz Distanz zur Natur schuf. Diese wurde nur noch aus einer sogenannten objektiven Perspektive untersucht. Dagegen wehrten sie sich.“

„Er (Friedrich Schelling) erklärte, dass der Mensch und die Natur eins sind, und lieferte die philosophische Grundlage für ein Gefühl, das fast alle Menschen kennen: Natur beruhigt. Natur heilt. Sie spricht zu etwas in uns, was nicht der Verstand ist.“

„Die Aufklärung behauptet, dass Wissenschaft und Gefühl nichts miteinander zu tun haben. Die Romantiker widersprachen: Die Natur und ich, das ist das Gleiche. Diese Philosophie der Einheit wurde zum Herzschlag der Romantik. Schauen Sie sich das berühmte Caspar-David-Friedrich-Bild an, auf dem ein Wanderer auf der Klippe steht und über’s Wolkenmeer guckt. Das ist dieses ‚Ich bin allein in der Natur, und ich spüre dennoch ein Zugehörigkeits-Gefühl‘.“

„Einer der wichtigsten Denker der Romantik war Fichte. Der stellte sich breitbeinig hin und sagte: Aller Realität Quelle ist das Ich! Das Ich ist der Anfang von allem! Es gibt keine absoluten oder gottgegebenen Wahrheiten! Die einzige Sicherheit, die wir haben, ist, dass die Welt durchs Ich verstanden wird! Damit machte er das Ich zum Herrscher der Welt.“

„Jedenfalls steht seither das Ich im Mittgelpunkt westlicher Gesellschaften – im Guten wie im Schlechten.“

„Sie orientieren sich zunächst an Immanuel Kant und seinem kategorischen Imperativ: Handle so, dass dein Handeln Grundlage eines allgemeinen Gesetzes werden könnte. Im Grunde benutzten sie ihr eigenes Leben als Theaterbühne, um das alles auszuprobieren. Die Gruppe junger Frauen und Männer machte das Ich zum Herrscher der Welt. Es ist nicht so überraschend, dass sie alle irgendwann ziemlich aufgeblasene Egos hatten. Die Verpflichtungen, mit denen Freiheit daherkommt, das funktioniert theoretisch alles sehr gut. Praktisch eher nicht.“

„Freiheit endet dort, wo die Freiheit des nächsten Menschen beginnt. Aber Theorie und Praxis haben nicht immer viel miteinander zu tun.“

„Die Romantiker waren nicht gegen den Verstand und rationale Beobachtung. Das allein reichte ihnen aber nicht, obwohl sie zum Teil selbst Wissenschaftler waren: Novalis, Humboldt, Goethe. Ich glaube, dass dieses Denken eine neue Generation anspricht. Gefühle und die Einbildungskraft mit in die Diskussion zu nehmen ist nicht unseriös oder New Age, sondern hat eine Tradition in der deutschen Geistesgeschichte.“

„Friedrich Schlegel hat damals gesagt: ‚Ich will Euklid singbar machen‘, also Mathematik und Physik in Musik verwandeln. Das ist doch wunderbar!“