3857: Christian Schultz-Gerstein, der „lodernde Verreißer“

Willi Winkler rezensiert in der SZ (10.5.22) den von Klaus Bittrermann herausgegebenen Band von Kritiken Christian Schultz-Gersteins:

Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Porträts, Essays, Reportagen, Glossen. Berlin (Tiamat) 2021, 448 S., 26 Euro.

Christian Schultz-Gerstein ist bei uns als derjenige bekannt, der Marcel Reich-Ranicki als „furchtbaren Kunstrichter“ bezeichnet hatte. Seit 1970 arbeitete er bei der „Zeit“, weil „ich nicht mehr wusste, wie es mit mir weitergehen sollte“. Er identifizierte sich mit Bernward Vesper, dem Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper. Keine guten Voraussetzungen für ein befriedigendes Leben. In seinem Kritiker-Urteil erscheint uns Schultz-Gerstein heute noch als klarsichtiger Analytiker. Das arbeitet Willi Winkler heraus.

Verblüffend, dass Schultz-Gerstein schon vor 40 Jahren das „Herrenreitertum“ eines Botho Strauß erkannt hat. Rainald Goetz betrachtete er als „rasenden Mitläufer“. Das Verschwinden von Karin Struck bedauerte er zutiefst. Peter Sloterdijk apostrophierte er schon 1983 als „philosophierenden Busengreifer“. Ein zentraler Punkt für Schultz-Gerstein war es immer, dass Reich-Ranicki am Lob Wolfgang Koeppens festhielt, obwohl dieser gar nichts mehr schrieb. Schriftsteller wie Gerhard Zwerenz nahm unser Kritiker gar nicht erst ernst. Er hat mit Peter Handke Fußball geschaut und von Jean Améry gelernt, was es heißt, im Konzentrationslager gefoltert worden zu sein.

Schließlich landete er beim „Spiegel“ und war mit Rudolf Augstein befreundet. Aber auch mit dem verkrachte er sich: „Du und deine Karaseks können einfach nicht ertragen, dass es auf Gottes Erdboden möglicherweise noch klügere, noch findigere, noch gerissenere Menschen gibt als Spiegel-Redakteure.“ Christian Schultz-Gerstein starb 1987 mit 41 Jahren. „Es heißt, er habe sich zu Tode getrunken, Liebeskummer soll auch dabei gewesen sein. Märchen aus uralten Zeiten, aber leider auch noch wahr.“