3624: Jenny Erpenbecks „Kairos“ – ein Liebesroman zum Ende der DDR

Die 1967 in Ostberlin geborene Jenny Erpenbeck stammt aus einer Schriftsteller- und Künstlerfamilie (Fritz Erpenbeck, Hedda Zinner, Doris Kilias, John Erpenbeck) der DDR. Sie hat schon mehrfach bemerkenswerte Literatur hervorgebracht („Die Geschichte vom alten Kind“, „Heimsuchung“, „Gehen, ging, gegangen“), die regelmäßig von der Kritik sehr gelobt wurde. Ihr gilt infolgedessen unsere Aufmerksamkeit.

Bei ihrem neuen Roman „Kairos“ (nach dem Gott des glücklichen Augenblicks) handelt es sich um einen Liebesroman und Untergangsroman der DDR. Dabei kommt Jenny Erpenbeck neben ihren großen literarischen Fähigkeiten ihre exakte Kenntnis der DDR-Gesellschaft und Berlins zugute. Mehr als irgendwo sonst erkennen wir, warum so viele Mitglieder der Intelligenzia und Nomenklatura den Untergang der DDR als Verlust empfinden und ihn betrauern. Erpenbeck: „Was mich immer interessiert hat, auch in diesem Buch, ist diese Parallelität zwischen privaten und politischen Beziehungsstrukturen: die Mechanismen von Macht, die Zuweisung von Schuld.“ Dazu nimmt sie „Tiefenbohrungen“ vor.

Katharina, 19, und Hans, 53, verlieben sich 1986 heftig ineinander. Das gründet sich auf eine große sexuelle Anziehung. Katharina steht am Anfang ihrer Karriere, während Hans im Taumel des realen Sozialismus schon lange ein praktizierender Zyniker geworden ist, der seine Familie bedenkenlos betrügt. Er entwickelt sich immer mehr zu einem „ausgewachsenen Arschloch“. Aber sympathisch sind beide Protagonisten in der Befangenheit ihrer Perspektiven nicht. Das schildert Erpenbeck aus der Innensicht. Am Beispiel der Rollen von Ernst Busch, Hanns Eisler und Heiner Müller wird klar, welche Funktionen diese Künstler für die Selbstwahrnehmung der DDR hatten.

Anfangs überlagert der sexuelle Sturm alles, den Jenny Erpenbeck meisterhaft und glaubwürdig schildert. Überhaupt wirkt ihr Schreiben an keiner Stelle bemüht oder belehrend. Die Zeitgeschichte sickert langsam in die Liebesgeschichte ein. Das eifersüchtige und misstrauische Regime mit seiner „inneren Emigration“ verleitet Hans allmählich zum Kontrollwahn. Stasi-Mitarbeiter war er auch. Katharina wird immer mehr zu seinem Anhängsel. Ihre Liebe endet 1992, also schon in einem Deutschland, in dem sich alles zu verändern beginnt. Mit der vertrauten Welt, der Heimat, verschwindet die Liebe. Die Milieus der Protagonisten werden  abgewickelt, im Fall von Hans der DDR-Rundfunk. Die Betroffenen sind in der Seele krank geworden.

Für die „Washington Post“ und den „New Yorker“ kommt Jenny Erpenbeck für den Literatur-Nobelpreis in Frage. Aber da sind statt weißer Frauen aus Deutschland wohl erst mal andere dran.

(Volker Weidermann, Zeit 7.10.21; Thomas Winkler, taz 19.10.21; Erik Heier, tip Berlin 18/2021)