3598: Deutsche Verlage haben Angst.

Literarische Texte haben in einzelnen Fällen schon immer Aufregung verursacht. Denken wir an Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974). Oder an Wolf Biermanns Votum gegen den Bundespräsidenten und ehemaligen Nationalsozialisten Karl Carstens: „Heil Hitler, teurer Wandersfreund, wie geht’s mit ihren Füßen/ich soll Sie von Herrn Filbinger mit deutschem Gruße grüßen.“ Aber den Streit darüber hielten deutsche Verlage seinerzeit aus. Heute haben sie vielfach Angst. Sie holen Textprüfinitiativen ins Haus für „Sensitivity Reading“, die Manuskripte auf ihre Wokeness-Kompatibilität überprüfen. Wokeness heißt wach zu sein für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Unterdrückung (Frauen, Schwule, Ausländer etc.). Darüber gerät manchmal die „normale“ soziale Ungerechtigkeit, etwa der Trennung von Arm und Reich, aus dem Blick. Das stellt z.B. Sarah Wagenknecht fest.

Heute gibt es verstärkt die Frage, ob eingeführte Literatur überhaupt noch gelesen werden darf. Wilhelm Raabe mit dem judenhassenden Erzähler im „Hungerpastor“ oder der rassistische Wilhelm Busch gerieten dabei schon unter die Räder. Der Monarchist Johann Wolfgang Goethe war nicht politisch korrekt. Ebenso nicht der Frauenverschlinger Bertolt Brecht. Die Literaturchefin des Piper-Verlags, Felicitas von Lovenberg, sagt: „Ich versuche Kolleginnen und Kollegen immer zu sagen: Wir sind keine Gesinnungsanstalt, sondern eine Plattform.“ Sie sieht durchaus, dass identitätspolitische Perspektiven bei jungen Autorinnen und Autoren immer mehr an Raum gewinnen. Von der Universität kämen sie schon woke in die Verlage.

Einen zentralen Punkt trifft Caroline Fourest mit ihrem Buch „Generation beleidigt“, in dem sie belegt, dass häufig die Legitimation, sich zu äußern, von der ethnischen Zugehörigkeit abhängig gemacht wird. So dürfe in der Auffassung vieler Kritiker und Kommentatoren ein Gedicht wie Amanda Gormans „The hill we climb“, das sie bei der Amtseinführung Joe Bidens vorgetragen habe, nur von einer schwarzen Frau übersetzt werden. Das Problem für viele relevante Verlage besteht darin, dass sie auch die sozialen Medien bedienen müssen. Dort sind mittlerweile Leute eingestellt, die in sozialen Medien ihre Weltanschauung gebildet haben. In einen Shitstorm (Entrüstungssturm) war Joanne K. Rowling geraten wegen ihrer Transfeindlichkeit. Inzwischen führt sie schon wieder die Bestsellerlisten an. „Wenn ein Pendel heftig ausschlägt, schwingt es irgendwann auch wieder zurück.“ Insofern setzt Literatur sich vielleicht doch fast von alleine durch. Die Autorin Sally Rooney will der Übersetzung ihres neuen Romans ins Hebräische allerdings erst dann zustimmen, wenn sich in Israel ein Verlag findet, der die Kriterien der Boykottiert-Israel-Organisation (BDS) erfüllt (Hilmar Klute, SZ 15.10.21).