3546: Herfried Münkler: Was nun mit Afghanistan geschieht.

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Herfried Münkler (vgl. hier 3533) analysiert, was nun mit Afghanistan geschieht (taz 28./29.8.21). Ich gliedere seine Ausführungen stärker:

1. „Die Entscheidung zum Truppenabzug war die Entscheidung, Afghanistan aufzugeben. Das hätte man kaum getan, wenn man sich den Zugriff auf die dortigen Bodenschätze hätte sichern oder das Land am Hindukusch als Bastion einer geopolitischen Kontrolle Zentralasiens hätte ausbauen wollen.“

2. Terrorbekämpfung allein kann nicht das Ziel des Afghanistan-Einsatzes gewesen sein.

3. Die permanente Bekämpfung von Terroristen hätte man mit einer Kombination von Kampf- und Spähdrohnen und einem gelegentlichen Einsatz von Spezialkommandos sehr viel billiger haben können.

4. Ziel muss infolgedessen die politische, gesellschaftliche und mentale Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft gewesen sein, die aus den Fesseln von islamistischer Ideologie und bäuerlicher Tradition befreit werden sollte.

5. Die Sowjetunion hatte das ein Jahrzehnt früher auch schon nach ihren Vorstellungen versucht und war dabei gescheitert.

6. Die Fehlwahrnehmung des Westens bestand darin, die Sowjets als Unterdrücker zu sehen, sich selbst aber als Befreier, was in der afghanischen Gesellschaft anders betrachtet wurde. Sie sah den Westen als Besatzer.

7. Der Westen hatte nicht genau genug auf diejenigen geschaut, die in dem Land leben und sich der Religion und den Traditionen verbunden fühlen.

8. So kam es insbesondere in Deutschland zu einem Überbietungswettkampf der Werte, die man den Afghanen einpflanzen wollte.

9. Deswegen hielt man an dem Projekt noch fest, als sein Erfolg schon mehr als in Frage stand.

10. Das Ziel blieb die grundlegende Transformation der afghanischen Gesellschaft.

11. Den Rückzug hatte der US-Präsident Trump aus Wahlkampfgründen angeordnet. Und sein Nachfolger Biden hatte das nicht rückgängig gemacht, was möglich gewesen wäre.

12. Die USA haben sich von der Vorstellung einer wertebasierten Weltordnung verabschiedet.

13. Diese Idee weiter zu verfolgen ist zu teuer.

14. Eine Weltordnung, die zu ihrem Funktionieren auf einen Hüter angewiesen ist, steht nun ohne Hüter da.

15. Als Nachfolger kommt hauptsächlich China in Frage.

16. Wir dürfen aber auch die Nachbarn Russland, Iran und Pakistan nicht vergessen, die ebenfalls nach hegemonialem Machtgewinn streben.

17. Die Taliban haben heute schon mit China die Abmachung, dass sie sich nicht in die Unterdrückung der Uiguren dort einmischen.

18. Die Taliban brauchen wirtschaftliche Unterstützung.

19. Bei den Menschenrechten und anderen Werten haben die Taliban mit China keine Probleme, da es diese selbst nicht anstrebt.

20. Das westliche „Nation Building“ hat in Irak, Libyen und Afghanistan nicht funktioniert.

21. Die Vorstellung von einer regelbasierten globalen Ordnung lässt sich nur noch unter Minimalbedingungen aufrechterhalten.

22. Zu erwarten sind Einflusszonen: USA, China, Russland, Indien, Europäische Union (EU).

23. Der neuralgische Punkt dieser Ordnung sind die Überschneidungszonen und Zwischenräume sowie die Territorien, an denen keiner der großen Akteure wirtschaftlich interessiert ist und um die sich deswegen keiner kümmert.

24. Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die als Wertebeobachter und Normverwalter auftreten, werden in globalen Fragen an Bedeutung und Einfluss verlieren.

25. Die Proliferation von Atomwaffen (siehe Iran) wird wieder eine stärkere Rolle spielen.