3446: Die Grünen und ihre Kanzlerkandidatin

Eine kurze Zeit lang erschien es vielen so, als hätten die Grünen die Bundestagswahl 2021 bereits gewonnen und würden die Bundeskanzlerin stellen. Nun ist es doch anders gekommen, aber das war ja zu erwarten. Immerhin aber wurde Annalena Baerbock mit 98,5 Prozent der Stimmen zur Kanzlerkandidatin gewählt. Fast einmalig.

„Die gefällige Inszenierung aber konnte nicht überdecken, dass die Kandidatin nicht mehr ist, wer sie mal war. Die Grünen haben jetzt in aller Brutalität erfahren, was es bedeutet, die Kanzlerschaft zu beanspruchen. Es ist höchste Zeit, dass die Partei sich professionalisiert und wappnet – auch mit Kaltblütigkeit. Denn es reicht eben nicht, dass sich in Annalena Baerbock eine einnehmende und kämpferische Politikerin aufgemacht hat, nächste Bundeskanzlerin zu werden. Ihre Kandidatur ist ein Signal der Erneuerung, für jüngere Generationen, für Frauen, für die Veränderungsbereiten im Land. Die blendenden Umfragewerte aber, die ihren Start zunächst begleitet haben, erwiesen sich als instabil. Nach einer Reihe von Fehlern zahlt Baerbock jetzt den Preis für den frühen Jubel. Obwohl der Parteitag ein ambitioniertes Wahlprogramm auf den Weg gebracht hat, wirkt die Kandidatin angeschlagen. Dass sie Kanzlerin wird, bezweifeln derzeit auch Parteifreunde. Aus gutem Grund.“ (Constanze von Bullion, SZ 14.6.21)

Hier gilt es aber, gerecht zu sein und zu konstatieren, dass Frau Baerbock so viel Hass und Frauenhass – auch in einem Teil der Massenmedien – auf sich zieht, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik noch niemals der Fall war. Auch bei Angela Merkel nicht. Das analysiert und beschreibt exakt Jagoda Marinic in der SZ (11.6.21). Sie bezieht – erfreulicherweise – auch und gerade die ein, die eventuell politisch gar nicht voll auf Baerbocks Linie liegen. Denn bei dem Anlauf von Frau Baerbock geht es ja grundsätzlich um

Weltoffenheit, Modernisierung und Emanzipation.

Und die Anhänger dieser Werte sind doch deutlich zu unterscheiden von denjenigen, die eher mit Nationalismus, Patriarchalismus und Veränderungsfurcht zu identifizieren sind. Es steht also mehr auf dem Spiel als nur die politische Mehrheit bei der Bundestagswahl am 26. September.

„Ohne großes Tamtam haben die (grünen, W.S.) Delegierten die Konflikte im Wahlprogramm abgeräumt. Gefordert wird nun ein überschaubarer Anstieg des CO2-Preises und ein Sozialprogramm, das viel stärker als früher Geringverdiener in den Blick nimmt. Aber auch der Schulterschluss mit der Industrie wird gesucht. Mit dem Thema Freiheit begeben sich die Grünen in die Nähe liberaler Reviere. Die politische Konkurrenz wird sich anstrengen müssen, ähnlich differenzierte Antworten auf komplexe Fragen zu finden.“

„Baerbock braucht neben mehr Kaltblütigkeit auch professionelle Redenschreiberinnen und -schreiber und einen Stab, der imstande ist, die Angriffe in einem extrem beschleunigten, teils schon toxischen Wahlkampf abzuwehren. Sonst wird die Kandidatin nicht durchdringen mit der Botschaft, die auch von diesem Parteitag ausgegangen ist, dass die Grünen über enormes Potential verfügen.“ (von Bullion)

Die Grünen werden noch gebraucht.