3409: Rahel Varnhagen – vor 250 Jahren geboren

1771 wurde Rahel Varnhagen als Jüdin Rahel Levin in Berlin geboren. 1833 starb sie als Rahel Varnhagen van Ense. Und sie markiert als erste eine zentrale Phase der Aufklärung, der freien Kommunikation. Die in der Zeit üblichen Demütigungen für Juden musste sie alle ertragen, überwand sie aber in ihrem Salon in der Jägerstraße. Sie war gleich dreifach benachteiligt: „nicht reich, nicht schön und jüdisch“, wie Hannah Arendt schrieb. Im Salon traf sich tout Berlin. Der Prinz von Preußen, die Brüder Humboldt, Schleiermacher, Friedrich Schlegel, der Antisemit Brentano, Chamisso, die Brüder Tieck und Jean Paul. Später, nach dem Ende der napoleonischen Besatzung

Heinrich Heine.

Rahel war ein Genie des Zuhörens, ein Genie der Freundschaft und ein Genie der Feder. Geheiratet hatte sie den vierzehn Jahre jüngeren Diplomaten und Historiker August Varnhagen van Ense (1785-1858), der ihre soziale Stellung sicherte und sich nach ihrem Tod um ihr literarisches Erbe kümmerte. Hannah Arendt fühlte sich Rahel Varnhagen anscheinend biografisch verbunden.

Rahel Varnhagen war die Inkarnation des Milieus, das Jürgen Habermas (geb. 1929) für seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) analysiert hatte. Kennzeichnend war „Publizität“ an Stelle der Arkanpolitik des Feudalismus. Das räsonnierende Publikum stellte Öffentlichkeit her. Allerdings kam es mit der Pressefreiheit und dem Entstehen der großen Pressekonzerne Ullstein, Mosse und Scherl zu einer „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“. Sie erscheint angesichts der gewalttätigen Hetze in den sozialen Medien heute wie ein Windhauch, auch wenn sie zur Zerstörung der Weimarer Republik beigetragen hatte (z.B. Hugenberg-Konzern).

Entdeckt hatte Hannah Arendt (1906-1975) Rahel Varnhagen für ihr Habilitationsprojekt „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“, das 1938 in Paris abgeschlossen wurde und auf Deutsch erst 1959 erscheinen konnte. Arendts Rahel-Buch trägt autobiografische Züge. Sie erkannte in Varnhagen eine „seelenverwandte Jüdin“ und entwickelte den Begriff Paria. Rahel hatte 1819 die ersten antijüdischen Pogrome in Preußen erlebt. Ihr Judentum empfand sie zeitweise als Schmach. Arendts Lektor für ihr Buch im Piper Verlag, war, ohne dass Arendt es wusste, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied und ein Ex-SS-Mann.

An Gershom Scholem schrieb Arendt: „Die Juden sind ja doch alle heimlich der Meinung, ich sei antisemitisch, sehen nicht, wie gerne ich Rahel hatte, als ich über sie schrieb.“ „Hannah Arendt scheint im Rahel-Buch auch ihre dramatische Liebesbeziehung mit Martin Heidegger zu verarbeiten, die damals noch streng geheim war. Niemand außer Heidegger und ein paar Eingeweihten konnte diesen Subtext verstehen. Erst 1982, als die Sache publik wurde, konnte man die Flaschenpost, die sie in den Tiefen der Biografie versenkt hatte, entkorken.“ (Michael Maar, SZ 19.5.21)

Rahel Varnhagens Kunst lag in ihrer Korrespondenz. Sie schrieb Briefe, wie andere Leute atmen. Varnhagen rühmte sich Jean Paul gegenüber, er besitze an die dreitausend Briefe von ihr. Um Johann Wolfgang Goethe trieb sie einen regelrechten Kult.

„Warum ragt sie so aus ihrer Zeit heraus? Ganz Esprit, ganz Herz, Feministin avant la lettre, für die Judenemanzipation kämpfend, Freidenkerin – alles wahr, aber das Entscheidende ist etwas anderes. Es ist ihre Sprache, ihr Stil, in dem sich ihr freies Denken niederschlägt. Rahel Varnhagen hasste das Klischee.“