3399: Jürgen Habermas lehnt einen Preis ab.

Unabhängig davon, wie wir den deutschen Philosophen Jürgen Habermas, geb. 1929, betrachten, sofern wir uns überhaupt dazu ein Urteil erlauben, ist es eine Tatsache, dass er ein riesiges Werk geschaffen hat, das nahezu unüberschaubar ist und viele Fächer berührt („Strukturwandel der Öffentlichkeit“ 1962, „Erkenntnis und Interesse“ 1968, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ 1973, „Theorie des kommunikativen Handelns“ 2 Bde. 1981, „Der philosophische Diskurs der Moderne“ 1985). Mein Fach, die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, war durch den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ unmittelbar berührt. Entsprechend ernst wurde Habermas bei uns genommen.

Das Erstaunliche bei Habermas war aber, sofern wir hier überhaupt kritisch herangehen wollen, dass es erstaunte, welcher Aufwand betrieben werden musste, um zu bestimmten Erkenntnissen zu gelangen. Die Bedeutung Europas hatten etwa Charles de Gaulle und Konrad Adenauer dreißig Jahre vorher ohne Philosophie erkannt.

Jürgen Habermas hatte den mit 225.000 Euro dotierten „Sheikh Zayed Book Award“ von Abu Dhabi zunächst angenommen. Dann abgelehnt mit der Begründung: „Die sehr enge Verbindung der Institution, die diese Preise in Abu Dhabi vergibt, mit dem dort bestehenden System habe ich mir nicht hinreichend klargemacht.“ Das berührt die alte Streitfrage, ob wir die Chancen höher bewerten, die ein Dialog verspricht, oder das Risiko, Autokraten bei der Verschleierung der wahren Natur ihrer Herrschaft zu helfen. Mit Verzögerung hat Jürgen Habermas für sich die Frage beantwortet. Klar. Auf dem Freiheits-Index der Organisation Freedom House steht Abu Dhabi mit 17 von 100 Punkten auf einer Stufe mit Iran und Swasiland.

Es versteht sich von selbst, dass Habermas‘ Entscheidung kritisiert wurde. Etwa von dem Übersetzer Stephan Weidner, der darin ein „Lehrstück für die moralische Überheblichkeit des Westens“ sieht. Sie zeige, dass es Araber und Muslime der westlichen Welt nie rechtmachen könnten. Abu Dhabi sei ein Staat, der mit Israel Frieden schließe und die Tauwetter-Politik am Golf mittrage.

Vermittelt hatte die Preisvergabe an Jürgen Habermas Jürgen Boos, der Direktor der Frankfurter Buchmesse. Er sagt: „Er (Habermas) hat sich über den Preis informiert und sich nach einigen Tagen Bedenkzeit entschieden, ihn anzunehmen.“ Boos ist der Meinung, dass wir demokratische Werte „besser vertreten, wenn wir Präsenz zeigen, als wenn wir die Distanz größer werden lassen“. Er unterstreicht, dass er von Abu Dhabi nur Reisekosten bekomme (Moritz Baumstieger, SZ 10.5.21).