3392: Sophie Scholl – ein Vorbild

Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl sind schon viele Beiträge erschienen. Natürlich von unterschiedlicher Qualität. Die meisten aber sehr ernst zu nehmen. Viele bemühen sich, hinter dem von Sophies älterer Schwester Inge Scholl, später Aicher-Scholl, gezeichneten Heiligenbild den Menschen Sophie Scholl erscheinen zu lassen. Alles in Ordnung, auch wenn wir uns bewusst sind, dass Inge Scholl ihr Buch „Die weiße Rose“ (1952) in einer Zeit geschrieben hat, als die Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ in Deutschland noch ganz überwiegend als unbedarfte Schwärmer gesehen wurden, die in einer Aura der Unschuld blieben, sich nicht zum Vorbild eigneten. Das sehen wir heute ganz anders. Sophie Scholl starb am 22. Februar 1943 in München-Stadelheim unter dem Fallbeil.

Ich stütze mich hier hauptsächlich auf zwei herausragende journalistische Quellen: Robert M. Zoske, taz 30.4/1./2.5.21 und Jörg Thomann, FAS 2.5.21. Der Theologe und Historiker Robert M. Zoske, 68, hatte 2014 mit einer Arbeit über Hans Scholl, Sophies Bruder, promoviert und 2020 „Sophie Scholl. Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen.“ veröffentlicht.

Sophie Scholl gehörte mit ihrem Bruder Hans, dem Kopf der Gruppe, zu einer sechsköpfigen Gemeinschaft von Widerständlern, die 1942/43 in München und anderen Großstädten insgesamt sechs Flugblätter gegen Hitler verteilt hatte und darin zum Widerstand, zur Sabotage und zum Umsturz aufrief. Sophie war die einzige Frau in der Gruppe. Der Name „Weiße Rose“ stammt von den Titeln der ersten vier Flugblätter.

1946 rief die Schriftstellerin Ricarda Huch unter dem Titel „Für die Märtyrer der Freiheit“ dazu auf, Briefe und Erinnerungen an den Widerstand zur Verfügung zu stellen. Sophie Scholls ältere Schwester Inge sandte Ricarda Huch 1947 eine 49-seitige Schrift, die sich aus heutiger Sicht als Rückprojektion und Selbstkonstruktion erweist. Inge Scholl hatte niemals zum Widerstand, geschweige zur „Weißen Rose“, gehört. Ihre Schrift war eine Vorstudie zu ihrem Buch über die „Weiße Rose“ (1952). Darin schildert sie das Kind Sophie trotz ihrer „wundersamen, unnennbaren Kindlichkeit“ als etwas Besonderes und „Reifes“. Allerdings marginalisierte Inge Scholl die Hitler-Jugendjahre ihrer Schwester, die anfangs eine glühende Nationalsozialistin (beim BDM) gewesen war. Für Inge Scholl war alles in Sophies Leben eine Vorbereitung auf die heroischen Widerstandswochen 1942/43.

In der DDR begann die Anerkennung Sophie Scholls als (antifaschistisch-sozialistische) Widerstandskämpferin sehr früh. Das erstreckte sich auch auf die „Weiße Rose“. Bereits 1949 gab es in Freiberg ein „Geschwister Scholl Gymnasium“. Die Deutsche Post der DDR publizierte 1961 die erste Briefmarke mit Sophie Scholl. Die Bundespost veröffentlichte 1964 eine Briefmarke mit acht Widerstandskämpfern, Sophie Scholl war dabei die einzige Frau. Möglicherweise hat dabei der Geschlechterproporz eine Rolle gespielt. 1991 folgte ein Einzelporträt Sophie Scholls.

Auf der Gedenkstätte bedeutender Deutscher, der Walhalla bei Regensburg, ist Sophie Scholl seit 2003 mit einer Marmorbüste die einzige Vertreterin der Münchener Gruppe. Nur von ihr gibt es in der Münchener Universität seit 2005 eine personalisierte Bronzebüste im Lichthof. Das Bild der „Weißen Rose“ wurde maßgeblich von drei Spielfilmen geprägt: Michael Verhoeven „Die Weiße Rose“ (1982), Percy Adlon „Fünf letzte Tage“ (1982), Marc Rothemund „Sophie Scholl – die letzten Tage“ (2005).

Seit langem haben sich Anekdoten um das Leben der „Weiße Rose“-Mitglieder und Sophie Scholls gerankt. So etwa die, dass sie einer jüdischen Mitschülerin beigestanden hätte. Und anderes. „Keine dieser erzählerischen Ausschmückungen ist haltbar.“ Sophie Scholl war als junges Mädchen eine begeisterte Nationalsozialistin. Sie neigte zu „elitären Gedanken“. Die Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ waren auch keine Pazifisten, wie Zoske etwas erstaunt feststellt. Nach eigenem Bekunden einer Freundin gegenüber wäre Sophie Scholl bereit gewesen, Hitler zu erschießen. Verwunderlich ist das nicht. Wir sind uns doch klar darüber, dass es keine Pazifisten waren, welche die Nazis besiegt haben. Sophie Scholls Christentum hat ihren Widerstand bestärkt. Nach den Worten ihrer Freundin Susanne Hirzel war sie „überkandidelt religiös“.

Sophie Scholls Umkehr zum Widerstand beruhte wahrscheinlich hauptsächlich auf ihren Erfahrungen in einem Kinderhort in Blumberg im Schwarzwald, wo sie „Kriegshilfsdienst“ ableisten musste. Das war ein sozialer Brennpunkt. Dort agierten die Nazis seit Mitte der dreißiger Jahre rücksichtslos im Sinne ihrer Rassen- und Rüstungspolitik. Ohne Rücksicht auf Anwohner und Natur. Dort wurden Verschleppte, Kriegsgefangene und Straftäter eingesetzt. Ursprünglich war hier Erzförderung geplant, die aber 1942 eingestellt wurde. Sophie Scholl erhielt hier täglich Anschauungsunterricht über die Brutalität und Menschenverachtung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Zwei Monate nach Ende des „Kriegshilfsdienstes“ lieh sie sich von ihrem Geliebten Fritz Hartnagel, einem Berufsoffizier, Geld für die Anschaffung eines Kopierers. Damit wurde sie schließlich zur Organisatorin des Widerstands, als ihre Mitstreiter als Soldaten zunehmend an der Front blieben.

Die Legendenbildung um Sophie Scholl erklärt sich überwiegend aus dem Wunsch, die Besonderheit ihres Handelns noch zu steigern. Der Mythos verschleierte die Wirklichkeit. Sophie Scholl wurde zur entrückten Heiligen. Das fiel im Land der vielen Mittäter auf fruchtbaren Boden. Wer hätte nicht gerne eine Schwester wie Sophie gehabt! Als ab 1968 die ersten entmythologisierenden Forschungen publiziert wurden, war beinahe kein Rezensent bereit, dem zu folgen. Aber Sophie Scholls Tagebuchhefte sprechen eine deutliche Sprache. Eines begann sie mit einem Gedicht Matthias Claudius‘. Sie beendet es mit einem Jesuswort über Trauer und Mut: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16, 33).

Robert M. Zoske schreibt zu Recht: „Sie konnte umkehren, ihren Sinn ändern, eine Denkwende vollziehen – Fähigkeiten, die auch heute dringend gebraucht werden. Sie handelte nach ihrer Überzeugung und ging trotz der Gefahr in den Widerstand.“ Maren Gottschalk schreibt, dass Sophie Scholl „keine furchtlose Heldin“ war. „Wenn jedes Volk, wie man so sagt, die Helden hat, die es verdient, dann mag man sich nicht nur beim Blick auf unsere finstersten Jahre manchmal fragen, womit die Deutschen eigentlich Sophie Scholl verdient haben.“