3112: Sahra Wagenknecht: Was links ist.

Die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, erläutert in einem Interview mit Boris Herrmann (SZ 24./25.10.20), was links ist.

SZ: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie über den Zustand der Linken nachdenken?

Wagenknecht: Man muss erst einmal fragen, was ist links? Was heute als links gilt, hat mit den traditionellen Anliegen linker Politik oft nicht mehr viel zu tun. Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gender-Sternchen und Lifestyle-Fragen. Diejenigen, für die linke Parteien eigentlich da sein sollten, also die Beschäftigten, die untere Mittelschicht, die Ärmeren, wenden sich deshalb ab. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt. …

SZ: Ist das ein rein deutsches Phänomen?

Wagenknecht: Nein. Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden. … Anders als noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sind es nicht mehr die Benachteiligten, sondern die Bessergebildeten und tendenziell auch die Besserverdienenden, die links wählen. Das ist schon ein Armutszeugnis für die Linke, wenn sie die Armen nicht mehr erreicht.

Linke Parteien sind heute vor allem in der urbanen akademischen Mittelschicht verankert, da kommen viele ihrer Mitglieder und Funktionsträger her. Vor allem letztere sind oft unter privilegierten Bedingungen aufgewachsen und haben kaum einen Zugang zum Leben normaler Menschen. Deshalb werden Debatten geführt, die an den Problemen vorbeigehen, die etwa eine Rentnerin hat, die von 900 Euro im Monat leben muss. Oder jemand, der jeden Tag Postpakete die Treppen hochschleppt. Oder als Schichtarbeiter in einem Industriebetrieb arbeitet. Diese Menschen können nichts anfangen mit der Debatte über Sabbaticals oder die Abschaffung des Autos. Sie reagieren allergisch, wenn der Klimawandel wieder nur das Alibi dafür ist, dass ihr Heizöl, ihr Strom und ihr Sprit noch teurer werden. Und sie wollen auch nicht dafür angemacht werden, dass sie ihr Schnitzel beim Discounter kaufen. Auch wenn man sieht, was in linken Kreisen heute als rassistisch gilt: Das hat mit dem originären Inhalt diese Begriffs nichts mehr zu tun.

SZ: Nennen Sie mal ein Beispiel.

Wagenknecht: Nach Umfragen sind sehr viele Leute – zum Glück – der Meinung, dass man Menschen in Not helfen muss. Aber sie sind zugleich der Auffassung, dass Zuwanderung begrenzt werden muss. Das ist nach linker Auffassung Rassismus. Absurd! Hier gibt es große Tabuzonen. Aber man muss doch darüber reden können, ob die Förderung von Migration überhaupt eine linke Position ist.

SZ: Das geht. Wir reden ja gerade darüber.

Wagenknecht: Für die Herkunftsländer ist Migration ruinös, weil es in der Regel die Besserqualifizierten sind, die abwandern. Alle seriösen Entwicklungsökonomen bestätigen das. Wenn wir wirklich den Bedürftigen helfen wollten, dann müssten wir vor Ort helfen. Und natürlich gibt es in den Einwanderungsländern auch große Probleme, soziale und kulturelle, deren Thematisierung man nicht den Rechten überlassen darf.