2918: Andreas Reckwitz: Der Staat muss regulieren.

Prof. Dr. Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Interview mit Peter Lindner (SZ 29.6.20) skizziert er seine Vorstellungen vom Staat:

„Moderne Gesellschaften wandeln sich ständig, das ist gewissermaßen ihr Normalzustand. Natürlich wird auch nach Corona manches anders sein. Ich bezweifle jedoch, dass die Coronakrise einen Epochenbruch markiert. Veränderungsprozesse in der Gesellschaft lassen sich kaum auf einzelne Ereignisse reduzieren. Der eigentliche Epochenbruch vollzieht sich nicht jetzt, sondern hat schon in den 1980er Jahren begonnen.“

„Sehr auffällig wird die Diskrepanz zwischen den Lebenswelten nach dem Ende der ’nivellierten MIttelstandsgesellschaft‘. Auf der einen Seite stehen die Wissensarbeiter aus der neuen Mittelklasse, die im Homeoffice arbeiten können. Und auf der anderen Seite jene Menschen, die im Bereich der sogenannten einfachen Dienstleistungen tätig sind. Dort haben sie es oft mit schlecht bezahlten und verletzlichen Beschäftigungsverhältnissen zu tun.“

„Wir haben in den 80er-Jahren einen Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat erlebt. Der Staat ist vor allem als Dynamisierer in Erscheinung getreten, der Märkte und Wettbewerb ermöglicht. … Bei der Finanzkrise wurde zum ersten Mal auch einer größeren Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, dass dieser Staat Marktversagen nicht mehr regulieren kann. Es verdichten sich seitdem die Indizien, dass die spätmoderne Gesellschaft eben keinen Staat braucht, der sich noch weiter zurücknimmt oder noch mehr dereguliert, sondern vielmehr reguliert und stabilisiert.“