2877: Rainer Werner Fassbinder 75

Am 31. Mai wäre Rainer Werner Fassbinder 75 Jahre alt geworden. Ich vermisse das Rauschen im deutschen Blätterwald und kann es mir nicht erklären. Der Schauspieler, Regisseur und Produzent Fassbinder leidet möglicherweise immer noch an seinem Schmuddelimage (gestorben ist er am 10. Juni 1982 mit nur 37 Jahren in einem Drogen-Exzess). Künstlerisch aber war er der Größte. In 15 Jahren hat er 40 Filme, zwei Fernsehserien und drei Kurzfilme abgeliefert. Dazu kommen sehr viele Theaterproduktionen. Wir sind ungefähr gleich alt, und ich habe Fassbinder immer wegen seiner Kreativität beneidet. Am bekanntesten ist hier gewiss „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (nach einem Roman von Gerhard Zwerenz 1975), in dem ein „jüdischer Immobilienspekulant“ vorkommt, der nach Ignaz Bubis modelliert sein soll. Nach energischen Protesten des jüdischen Establishments wurde das Stück als antisemitisch deklariert und nicht aufgeführt.

Fassbinder hatte keine glückliche Jugend (bis 15 lebte er bei seiner Mutter in München, dann bei seinem Vater in Köln) und keine abgeschlossene künstlerische Ausbildung. Er begann in München am „Action-Theater“ (gemeinsam mit Hanna Schygulla). 1969 brillierte er in Volker Schlöndorffs Fernsehfilm „Baal“ (Bertolt Brecht), heute noch äußerst sehenswert. Fassbinder übernahm das „Antitheater“ und lieferte seine ersten künstlerisch eigenwilligen Filme ab („Liebe ist kälter als der Tod“ 1969, „Katzelmacher“ 1969). Sein Vorbild war der in Hollywood mit seinen Melodramen sehr erfolgreiche Douglas Sirk (der im Nazi-Film als Detlef Sierck gestartet war). Fassbinders sehr schnelle Arbeitsweise wurde unterstützt von seinem „Clan“ (u.a. Irm Hermann, Barbara Valentin, Günther Kaufmann, Gottfried John, Wolfgang Schenck, Ulli Lommel, Katrin Schaake).

Es folgte Film auf Film: „Götter der Pest“ (1969), „Warum läuft Herr R. Amok?“ (1970), „Niklashauser Fahrt“ (1970), „Warnung vor einer heiligen Nutte“ (1971), „Händler der vier Jahreszeiten“ (1971), „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (1972), „Acht Stunden sind kein Tag“ (1972-1973, fünf Folgen), „Angst essen Seele auf“ (1974), „Fontane Effi Briest“ (1974), „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ (1975), „Ich will doch nur, dass ihr mich liebt“ (1975), „Bolwieser“ (1976), eine Episode in „Deutschland im Herbst“ (1978), „Berlin Alexanderplatz“ (1980, 14 Folgen), „Lili Marleen“ (1980), „Lola“ (1981), „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1982).

Rainer Werner Fassbinder legte im Privatleben nicht allzu großen Wert auf Angepasstheit. Er lebte mit Frauen und Männern zusammen. Seine letzte Partnerin, Juliane Lorenz, seine Cutterin, beerbte Fassbinders Eltern und gründete die Rainer Werner Fassbinder-Stiftung, die nach und nach alle künstlerischen Hervorbringungen Fassbinders erwarb und bald ein Monopol besaß. 2019 überließ Juliane Lorenz fast den gesamten Nachlass dem „Fassbinder Center“ in Frankfurt am Main, das zu einer Forschungs- und Begegnungsstätte des deutschen Nachkriegsfilms ausgebaut werden soll.